Dienstag, 26. November 2019, 10:00 – 19:00 Uhr
mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien
Foto: Niko Havranek © mumok
Ziel der Tagung war es, die Wiener Avantgardenetzwerke der zweiten Hälfte des letzten Jhdts. in Beziehung zu der speziellen Netzwerkkultur der Wiener Moderne zu setzen und zu untersuchen, wie weit es heute solche Avantgardenetzwerke gibt, wie sie funktionieren und ob sie noch zu so viel produktiver Kraft und Innovation imstande sind. Dabei stand im Besonderen die Frage nach den Diskursen und ihren Bedingungen als Grundlage solcher Netzwerke im Fokus und wurde im Dialog unterschiedlicher Generationen beleuchtet.
ViennAvant veranstaltete diese Tagung in Kooperation mit dem mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften – Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte sowie der Vienna Doctoral Academy der Universität Wien: Theory and Methodology in the Humanities. Die Kulturabteilung der Stadt Wien unterstützte die Veranstaltung.
Programm:
Begrüßung: Rainer Fuchs, mumok, Marcello Farabegoli, ViennAvant
Einführung Harald Katzmair, FASresearch: „Struktur und Dynamik von Netzwerken“
Vortrag Wolfgang Pircher, Universität Wien: „1920. Netzwerke des Wissens vs. Netzwerke der Macht“
Impulsstatements und Gespräch „Künstlerische Netzwerke der Zwischenkriegszeit“:
Dieter Bogner, bogner.knoll: „Drei Netzwerker der Wiener Moderne: Kiesler_Tietze_Kassák“
Bernhard Fetz, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek:
„Die Netzwerke der Wiener literarischen Moderne“
Maximilian Kaiser, OEAW / INZ: „Hagenbund“
Monika Platzer, AzW: „Netzwerk_Internationale Kongresse Moderner Architektur (CIAM)“
Vortrag Michael Rohrwasser, Universität Wien: „Gab es die Stunde Null?“
Impulsstatements und Gespräch „Netzwerke um 1970“:
Eva Badura-Triska, mumok: „Zum Personenfeld des Wiener Aktionismus“
Irene Suchy, ORF: „Zerrissene Netzwerke“
Alexandra Millner, Universität Wien: „Wiener Gruppe und Umfeld“
Gabriele Jutz, Universität für Angewandte Kunst: „Der Wiener Experimentalfilm“
Rudolf Kohoutek, freier Urbanist: „Als alle noch Zeit hatten. Architektur im Netzwerk der Wiener Avantgarden 1965-1975“
Vortrag Klaus Atzwanger, Universität Wien: „aus-diskutiert. Aspekte des Erlahmens von Diskursen“
Impulsstatements und Gespräch „Netzwerke heute“:
Johanna Öttl, Universität Wien „Lyrik Netzwerke heute“
Anna Spohn, Universität für Angewandte Kunst: „Avantgarden heute?“
Volkmar Klien, Bruckner Universität Linz: „Musikavantgarden heute“
Astrid Mager, Institut für Technikfolgenabschätzung der OEAW: „Algorithmen, Daten & Netzwerke“
Georg Kö, Vienna Doctoral Academy der Universität Wien: „Netzwerke der Alltagskultur“
Zusammenfassung Harald Katzmair, FASresearch: „Ergebnis aus der Sicht der Netzwerktheorie“
Moderation: Michael Kerbler, Kombinat 3
Konzept und Organisation: Helga Köcher, ViennAvant
Mit der Tagung „Wiener Netzwerke 1920 – 1970 – 2020“, die der Verein ViennAvant am 26. November 2019 im mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig veranstaltete, wurden unterschiedliche Zielgruppen erreicht: Forschende, Freiberufler, Kulturschaffende, Studierende, Pensionisten. Die Stimmung war besonders angenehm, da die innerhalb der wissenschaftlichen Community häufige Spannung der Konkurrenzierung durch die disziplinäre wie institutionelle Heterogenität wegfiel.
Der unkonventionelle Ansatz des Netzwerkforschers Harald Katzmair erzeugte schon mit seinem Intro eine positive Dynamik. Zunächst gab er einen Einblick in die morphogenetische Struktur von Netzwerken. Wenn diese sich stabilisieren, erstarren sie und werden entropisch, erklärte er. Um Wissen zu generieren und zu katalysieren, müssen sie daher stets Zyklen durchlaufen mit Phasen des Wachstums, des sich Konsolidierens, sich Verdichtens. In einer weiteren Phase würden sie kollabieren und müssten wieder neu erfunden werden. Katzmair unterstrich die Dringlichkeit für die Entwicklung neuer Transformationsbeziehungen, die nie aus dem Zentrum kämen, sondern immer aus der Peripherie. Die entscheidende Frage sei: Unter welchen Bedingungen ist es möglich, dass die Semiperipherie eines Netzwerks Subzentren produziert mit genügend Autonomie, damit radikal Neues entstehen kann, das von den Zentren nicht sofort gekauft oder zerstört wird – oder wegen der Schwäche der Peripherie zerfällt?
Katzmairs Hinweis auf den Psychiater, Soziologen und Begründer von Psychodrama, Soziometrie und Gruppenpsychotherapie Jacob Levy Moreno war eine Brücke zur Key Note des Ökonomen und Philosophen Wolfgang Pircher, der die faszinierende Wissenschaftlerszene im Wien der Ersten Republik beleuchtete. Deren Vielfalt hatte 2016 sogar in Australien Claire Wright von der Macquarie-Universität motiviert, eine Netzwerkanalyse „The 1920s Viennese intellectual community as a center for ideas exchange“ zu entwickeln und im Journal „History of Political Economy“ zu publizieren. Pircher beschrieb den besonderen Charakter dieser informellen Gesprächskreise, ihre Entstehung und Dynamik – den „Wiener Kreis“ und innerhalb dieses noch den Schlick-Kreis, das Privatseminar von Ludwig Mises und Friedrich August von Hayek, Hayeks eigenen „Geist-Kreis“, das Institut für Konjunkturforschung und andere mehr. Durch die selektive Aufnahme und konstante Zusammensetzung der Teilnehmer entstanden „Denkkollektive“. Es gab aber auch Fäden zu externen Institutionen, etwa zur Rockefellerstiftung. Zur gleichen Zeit, wo die Teilnehmer dieser avantgardistischen Netzwerke an vorderster Front der wissenschaftlichen Erkenntnisse forschten und diskutierten, agierten – oft verdeckt – auch eine Reihe von reaktionären Netzwerken wie die „Bärenhöhle“, eine antisemitische Vereinigung rund um den Paläontologen Othenio Abel, die mit ähnlichen Gruppierungen und Geheimbünden wie der „Deutschen Gemeinschaft“, dem „Deutschen Klub“ und der „Akademischen Sektion“ vernetzt waren. Das waren keine offenen Netzwerke, sondern Netzwerke der Macht durch die Verzahnung mit Institutionen, die sie instrumentalisierten, vor allem gegen jüdische Wissenschaftler. Dazwischen gab es auch das neutrale Milieu der Volksbildung. In den Volkshochschulen, der „Universität der kleinen Leute“ lehrten bedeutende Wissenschaftler. Ludo Moritz Hartmann sah Demokratie und Volksbildung als einander bedingend. In seinem Modell generierten Lehrende und Lernende auf Augenhöhe Wissen.
Im folgenden ersten Gesprächsblock zeigten sich unterschiedliche methodische Zugänge der kulturhistorischen Forschung: Während der Museologe und Kunstsammler Dieter Bogner an Hand der Netzwerke Kiesler, Tietze und Kássak die Schwierigkeiten aufzeigte, die Wirkungsgeschichte Länder-, ja Kontinente übergreifender Netzwerke zu erforschen, arbeitete der Direktor des Österr. Literaturarchivs und Literaturmuseums Bernhard Fetz strukturelle Parallelen zwischen dem Vorkriegsnetzwerk von Robert Müller und dem Nachkriegsnetzwerk von Oswald Wiener heraus, die aus der archivarischen Forschung evident wurden. Dabei nahm er die Beobachtung Wolfgang Pirchers wieder auf, dass Netzwerke nicht immer nur für, sondern auch gegen etwas gegründet werden. Maximilian Kaiser, OEAW, erläuterte die Methode, mit der das künstlerische Netzwerk Hagenbund in einem Forschungsprojekt des Belvedere dargestellt und visualisiert wurde.
Die Sammlungsleiterin des AzW Monika Platzer beschrieb mit der Entwicklung von CIAM, dessen österreichisches Gründungsmitglied Josef Frank war, den Prototyp eines internationalen Netzwerks der Zwischenkriegszeit. Ziel von CIAM war es, ein zeitgemäßes Architekturprogramm zu schaffen, das von den Mitgliedern vertreten und über Ländergruppen weltweit verbreiten werden sollte. Als Initiator und künstlerischer Leiter der Werkbundsiedlung lud Josef Frank neben Wiener Architekten aus drei Generationen auch vier CIAM-Mitglieder aus dem Ausland zur Teilnahme ein, darunter André Lurcat und Gerrit Rietveld. Otto Neurath trug dort seine universelle Bildsprache vor.
In der Diskussion dieses Blocks wurde vor allem die Frage der Wirkmächtigkeit der besprochenen Netzwerke verhandelt. Zeitungen wurden als wichtig für die Themensetzung hervorgehoben. Deutlich wurden die Auswirkungen der politischen Umwälzungen auf die Netzwerke, aber auch, wie es manche von ihnen schafften, diesen Herausforderungen durch Migration oder durch Neugründung erfolgreich zu begegnen. Dieter Bogner und Monika Platzer betonten, dass Netzwerke wegen ihrer Interdisziplinarität durchlässiger und bei weitem offener seien als Berufsvereinigungen. Auf die Frage des Moderators, ob in die Interdisziplinarität der kulturwissenschaftlichen Netzwerke auch Naturwissenschaften involviert waren, erzählte Bernhard Fetz, dass in den Salons von Berta Zuckerkandl ihr Mann, der berühmte Anatom Emil Zuckerkandl Vorträge mit Schautafeln aus dem anatomischen Atlas hielt, die zweifellos den anwesenden Gustav Klimt inspirierten. Monika Platzer wies darauf hin, dass in den Anfängen der „Alpbacher Hochschulwochen“ die Öffnung zu allen Disziplinen sehr stark war. Dieter Bogner subsumierte: Heute herrsche zu 90% Disziplinendenken. In den 50er-Jahren habe Musik eine Rolle gespielt, Otto Neurath eine Rolle gespielt, die Positivisten eine Rolle gespielt…. Diese Leichtigkeit wieder zu gewinnen wäre schön.
Der Nachmittag begann mit einer Lecture des Literaturwissenschaftlers Michael Rohrwasser zur Frage der „Stunde Null“. Der Kurs dieses Begriffs sei sehr bald deutlich gesunken, stellte er fest. In den deutschen Amtstuben genauso wie in den großen Verlagen konnten alte Nazis bis hin zum Bundeskanzler Karriere machen. Die Weigerung, sich der Vergangenheit zu stellen sei Bedingung für den Wiederaufbau gewesen. Eine Trauerarbeit habe es vorerst nur an den Rändern gegeben – z.B. in Becketts „Endspiel“. Am konsequentesten habe die Auslöschungsarbeit im deutschen Schlager stattgefunden. Der Opfermythos sei erfunden worden. Der Berliner Mauerbau war das Entlastungssystem, das die eine Seite vor der anderen schützte, den jeweils anderen Teil Deutschlands zum Erbe des Nationalsozialismus erklärte und für sich selber die Formel des Neuanfangs bzw. der Befreiung in Anspruch nahm. Klaus Theweleit spitzte sarkastisch zu: Die Deutschen seien die psychologischen Sieger dieses Krieges geblieben: Die Juden seien weg, die Kommunisten weg, die Arbeiterbewegung kaputt, die sexuelle Befreiung gestoppt und 20 Millionen getöteter Russen im Rücken. Dieses größte Schlachtopfer sei also erfolgreich gewesen. Aber die Armee wäre sauber geblieben. Das Blut sei metaphorisch zum Universalreinigungsmittel der Waschmittelwerbung mutiert. – Auch in Österreich floss in den 60er-Jahren viel Blut in den Inszenierungen des Wiener Aktionismus, dessen Zentralorgan die „Die Blutorgel“ hieß. Auf der Bühne wurden Stiere, Lämmer und Schweine geschlachtet und ausgenommen. Der Aufschrei derer, die sich gesundes Empfinden zuschrieben, war groß. Tatsächlich seien diese öffentlichen Schlachtungen großangelegte Störmanöver gegen den Verdrängungskult nach 1945 gewesen. Die „Stunde Null“ war Gespensterstunde. Das Verdrängte kehrte wieder, beispielsweise in Hans Leberts Roman „Wolfshaut“ aus 1960, in dem die Ermordeten das Dorf heimsuchen und Rache nehmen, obwohl man die Bluttat doch so schön vergessen hatte. Elfriede Jelinek hat das Thema noch einmal in ihren „Kinder der Toten“ aufgegriffen. – Unheimlich seien auch diejenigen gewesen, die nicht zurückkamen, sich aber von draußen zu Wort meldeten, wie Hermann Kesten, wichtiger Romanautor der Weimarer Republik und literarischer Lektor von Seghers, Kafka, Benn, Joseph Roth, Freund Klaus Manns und ein streitbarer Geist. 1961 kam es auf Initiative des linken Verlegers Feltrinelli zu einem Treffen von Hermann Kesten und Uwe Johnson. In seiner Eröffnungsrede bezeichnete Kesten Bertolt Brecht als einen „Diener der Diktatur“. Das empörte Feltrinelli. Nach einem Streitgespräch wurde der Zwist zwar zunächst applaniert. Kurz darauf erschien jedoch in der „Welt“ ein Artikel von Kesten, in dem dieser Uwe Johnson unterstellte, er habe „wie Ulbricht gesprochen. Die Mauer sei eine Notwendigkeit gewesen, vernünftig und sittlich“. Feltrinelli schrieb daraufhin an Kesten, er müsse Johnson völlig missverstanden haben. Der „Spiegel“ brachte eine Richtigstellung aufgrund eines Tonbands, dessen Authentizität Kesten jedoch bezweifelte. „Die Zeit“ sprach von einem Rufmordversuch Kestens an Johnson; dagegen polemisierte „Die Welt“ weiter gegen vermeintliche „Ressentiments“. Alte Emigranten solidarisierten sich mit Kesten, die neue Literaturszene dagegen mit Uwe Johnson. Kesten gab keinen Kommentar mehr ab. Ein Jahr später schrieb er allerdings die Novelle „Der Lebensweg des Nikolaus Stern“, deren Protagonist beim Fluchtversuch an der Mauer erschossen wird. Einer der Schützen ist Germanist, der, wie Johnson, in Leipzig bei einem „schlauen Professor“ namens Mayer studiert hat und der seine Todesschüsse mit dem Satz rechtfertigt: „Er starb in Konsequenz der Notwehr unserer Behörden“. Der Erschossene, Nikolaus Stern ist Jude und trägt die Geburtsdaten Kestens. – In der Affäre spiegelt sich auch ein Missverstehen literarischer Generationen: der junge Autor reagiert nicht moralisch auf den Schock des Mauerbaus; der alte Emigrant, ausgebuht wegen seines Urteils über Brecht, fühlt sich unverstanden und spürt noch einmal die Ausklammerung der Exilliteratur in Westdeutschland.
Im folgenden zweiten Gesprächsblock entfaltete die Kunsthistorikerin und Kuratorin Eva Badura das Umfeld des Wiener Aktionismus, das kein Netzwerk, sondern ein Personenfeld war. Es erstreckte sich durchaus nicht nur auf Bildende Künstler, Filmer und Fotografen, sondern zu ihm gehörten auch Veranstalter, Journalisten, Verleger, Anwälte, Architekten, Experimentalpsychologen…. Und es waren Frauen, die die wirtschaftliche Basis boten. Die Musikwissenschaftlerin Irene Suchy dagegen fokussierte in ihrem Beitrag „Zerrissene Netzwerke“ nicht auf die bekannten Musikernetzwerke der Nachkriegszeit wie „die reihe“, sondern auf die schwierige Rolle der Frauen und auf die Konservativität der Komponistenszene, die noch immer zur Verfestigung neigt und es Frauen sehr schwer macht, zu Aufführungen zu kommen und zu reüssieren. Die Literaturwissenschaftlerin und Präsidentin des H.C. Artmann-Clubs Alexandra Millner bot eine stringente Kurzzusammenfassung der Geschichte der „Wiener Gruppe“ an Hand der wichtigsten Ereignisse mit Herausarbeitung der Erfolgskriterien: Ablehnung und Ausgrenzung aus dem offiziellen Literaturbetrieb führten zur Eigeninitiative, als entscheidend erwiesen sich fixe Orte, gemeinsame Projekte, Veranstaltungen, Lesungen, Zeitschriften, vor allem aber ein Mentor: neben Hans Weigel war Heimito von Doderer ein großer Förderer der Wiener Gruppe.
Die Medientheoretikerin und Filmwissenschaftlerin Gabriele Jutz schilderte profund die drei aufeinanderfolgenden Generationen der Wiener Experimentalfilm-Netzwerke. In der ersten Generation Mitte der 50er-Jahre mit Peter Kubelka, Marc Adrian, Kurt Kren und Ferry Radax gab es kein Netzwerk, wohl aber Freundschaften und Rivalitäten. Die Künstler interessierten sich für das Medium selbst – die Projektion, das Medium, die Kamera. Es ging um die Frage nach dem Wesentlichen des Films. In der zweiten Generation kam mit Gottfried Schlemmer, Hans Scheugl, VALIE EXPORT und den Aktionisten der gesellschaftliche Anspruch dazu. Die generelle Infragestellung von Kunst führte zu einer Erweiterung des Mediums – dem Expanded Cinema. Das „Tapp- und Tastkino“ von VALIE EXPORT war 1968 der „erste echte Frauenfilm“. In der dritten Generation der 80er-Jahre arbeiteten Lisl Ponger, Gustav Deutsch, Mara Mattuschka, Martin Arnold und Peter Tscherkassky auf der Basis von Found Footage. Ein anderer Aspekt war das von Maria Lassnig 1982 gegründete Studio für experimentellen Animationsfilm. Vor allem von Frauen wie Sabine Groschup und Mara Mattuschka wurden hier Low Budget- und Low Tech Filme bis 1997 gemacht. Der Urbanist und Zeitzeuge Rudolf Kohoutek schließlich steuerte mit seinem Beitrag „Als alle noch Zeit hatten“ einen strukturellen Ansatz bei – eine Rekonstruktion von Netzwerken in Diagrammen. Vernetzungen waren charakteristisch für die Avantgarden, aber auch Politisierung, soziales Engagement, Mitbestimmung. Avantgarden seien stets unerwartet, unerkannt, lebensnäher als der Mainstream. Die Avantgarde war zu Ende, als niemand mehr Zeit hatte, resümierte Kohoutek.
In der Diskussion wurden Veränderungen thematisiert, die Brüchigkeitscharakter haben. Eva Badura merkte an: Der gemeinsame Gegner, das war damals die Öffentlichkeit. Heute herrsche in der Kunstwelt eine gewisse Bequemlichkeit. Die Kunst sollte wieder schärfer werden und sich vom Kunstmarkt emanzipieren. Alexandra Millner schilderte die Flexibilität H.C. Artmanns, der, wenn es einen Skandal gab wie mit seinem Gedicht in den „Neuen Wegen“, einfach eine neue Plattform gründete. Irene Suchy hob die Bedeutung des „Gesetzes zur Freiheit der Kunst“ 1982 hervor. Es sei ein Meilenstein in Österreich gewesen, der für die Kunst eine gewisse Sicherheit bedeutet und der Politik einen Freiraum zur Unterstützung geschaffen habe. Gabriele Jutz erwähnte das zunehmende Verschwinden des Analogen zugunsten des Digitalen, eine Verarmung, die die Künstler_innen aber nicht akzeptieren wollten und vor allem im Ausstellungskontext wieder zunehmend den analogen Film einfordern. Die digitalen Medien würden zu einer kulturellen Amnesie führen, da das digitale Bild omnipräsent sei, aber seine Quelle unsichtbar. Wenn man die Produktionsmittel herzeige, statt sie verschwinden zu lassen, sei das politisch, postulierte sie. Dem stimmte auch Rudolf Kohoutek zu und stellte in der Gegenwart eine digital-affektive Gründerzeit fest, die zu einem weltweiten Universalstil führe. Er betonte, dass die Erlebnisweise einer Epoche am schwersten zu vermitteln sei.
Der Vortrag des Verhaltensforschers Klaus Atzwanger „Ausdiskutiert. Aspekte des Erlahmens von Diskursen“ war ein leidenschaftliches Plädoyer für den Diskurs. Kommunikation sei eine Universalie, ein menschliches Grundbedürfnis. Die Rhetorik der Antike habe sich mit dem gesamten Prozess der Wissensverarbeitung und Wissensweitergabe beschäftigt. Der kultivierte Austausch von Standpunkten und Meinungen als Kunst sei schon in der griechischen Wiege der Demokratie nachweisbar. Dieser Austausch von Sachargumenten, die spielerische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen, die Übernahme von Gedanken und das Abwägen unterschiedlicher Standpunkte – also das, was wir Diskurs nennen – seien Fähigkeiten, die nicht evolutionär entstanden sind, sondern im Rahmen der Kulturation. In den Zivilisationsprozessen habe er zu Hochkulturen geführt. Dieser Diskurs sei die notwendige Basis der Demokratie. Durch die Ökonomisierung aller Lebensbereiche und durch die Selbstoptimierung laufe aber die Fähigkeit zum Diskurs Gefahr, verloren zu gehen. Das bedrohe unsere Demokratie. Es bedrohe aber auch die Wissenschaft. Die Wissenschaft brauche Diskurs und Netzwerke, die einander wechselseitig bedingen. Die großen Ideen und Erkenntnisse entstünden niemals nur in einem genialen Kopf. Durch Vereinzelung könnten die besten Ideen keine Öffentlichkeit und politische Kraft entwickeln. Bereits erkennbares Fazit dieser unglücklichen Entwicklung sei das Stagnieren der Budgets für Sozial- und Geisteswissenschaften, denn diese bemühten sich weit weniger um Öffentlichkeit als die Naturwissenschaften und signalisierten dadurch der Politik weniger Bedeutung. Atzwanger rief dazu auf, über Fachgrenzen hinweg Brücken zu schlagen, verstärkt interdisziplinär zu arbeiten und die eigene Forschung auch in andere Kreise zu tragen, auch in die Politik und die Wirtschaft, bei der er aus der Erfahrung seiner Beratertätigkeit Defizite sehe. Sein Aufruf „Haben Sie Mut!“ stieß auf viel Response.
Der dritte Gesprächsblock war den Netzwerken der Gegenwart gewidmet. Die Kunsthistorikerin und Theoretikerin Anna Spohn, die diesen Block eröffnen sollte, war leider erkrankt. Die Literaturwissenschaftlerin und Programmkoordinatorin der Alten Schmiede Johanna Öttl fokussierte in ihrem Beitrag auf Lyrik-Netzwerke, die sich trotz veränderter Produktionsbedingungen um einige wichtige independent Kleinverlage gebildet haben und handelte deren Gegenöffentlichkeitskonzepte an zwei Beispielen ab: Der von einem demokratischen Kollektiv betriebene Hochroth-Verlag mit inzwischen 8 Standorten von Wien bis Paris umgehe das Problem der Lagerkosten durch das Format kleiner Bücher, die man leicht dezentral am Laser-Drucker produzieren kann. Mit dem Konzept „Lyrik-Buchhandlung“ nur für Kleinverlage habe er ein Pendant zur Leipziger Buchmesse geschaffen. Der Vernetzungsaspekt stehe auch im Mittelpunkt der Plattform „Fix Poetry“, die sich gegen das offizielle Feuilleton richte und mit einem Preis für weibliche Lyrik die Stimme von Frauen fördere.
Das Thema von Volkmar Klien, Komponist, Musikwissenschaftler, Professor an der Bruckner-Universität und Co-Kurator der Alten Schmiede war „Musikavantgarden heute“. In der Komposition sei die Avantgarde nach dem Krieg über ihre Netzwerke extrem erfolgreich gewesen mit Darmstadt als Zentrum. Die damals Jungen seien alle Professoren geworden und ins Zentrum der Macht gerutscht. Dadurch sei die Avantgarde eine Art Verpflichtung geworden. Junge Leute schrieben nun so wie diese Nachkriegsavantgardisten. Und während sie den ganzen Tag für ihre Karriere „networken“, was auch ein Teil dieser Selbstoptimierungsmaschine ist, sei es seit einigen Jahren möglich, mittels „künstlicher Intelligenz“ gute Musik zu produzieren. Die Produzenten seien keine Komponisten mehr, sondern Techniker, die größten Forschungsgruppen seien Google, Spotify, Microsoft. Das sei aber auch ein weiterer Schritt zur Machterlangung. Und im Kampf dagegen optimiere man weiter das System.
Der Beitrag von Astrid Mager, Netzwerkforscherin im Institut für Technikfolgenabschätzung der OEAW schloss sich nahtlos an mit ihrem Beitrag „Algorithmen, Daten, Netzwerke“. Das Internet sei ein Werkzeug auf der Suche nach Ergebnissen. Aber das Werkzeug beeinflusse natürlich auch das Ergebnis. Astrid Mager nahm uns mit auf eine Reise zur Wiege des Internets am Beginn der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Zeitschriften haben auch da eine Rolle gespielt. Das Wired Magazine war das Organ der Cyber-Elite, ein Sammelbecken von Intellektuellen, Science Fiction Autoren und Cyberfeministinnen rund um Donna Haraway, die von der Utopie einer anderen Welt träumten, einem euphorischen Ideal, in dem jeder eine Stimme haben könne. Diese Utopie sei einer Dystopie gewichen. Die Struktur des Netzes heute sei der damaligen Vorstellung total entgegengesetzt. Die ursprünglich händisch kategorisierten Webseiten seien bald nach ihrem Wert durch ihre jeweilige Gewichtung im Schneeballeffekt referenziert worden. Webseiten stünden nicht mehr demokratisch nebeneinander, sondern Silicon Valley habe zu einer enormen Hierarchisierung geführt, zur Zerstörung von Diskursen durch Bots, zur Verzerrung durch Bias… „Technologie ist verfestigte Gesellschaft“ zitierte sie Bruno Latour. Wo die digitale Avantgarde heute noch zu finden sei? Bei Künstlergruppen, die Projekte ins Darknet stellen und die Frage nach der Verantwortung thematisieren? Bei Hacker Spaces, wo Leute an neuen Lösungen arbeiten? In der Block Chain Technologie, wo ein noch etwas anarchischerer Raum erschlossen wird? Bei einer Gruppe von Forscher_innen, die versucht, einen europäischen Index zu schaffen als Alternative zu Google und Bing?
Den Abschluss bildete der Beitrag des Historikers und Aktivisten Georg Kö zu Netzwerken der Alltagskultur. In der Vorstadt habe Kultur andere Perspektiven. Der Verein Kulturraum 10 beschäftige sich mit den Themen, die den Menschen in Favoriten am Herzen liegen. Zu seinen Aktivitäten gehörten Expert_innengespräche zu Themen aus Favoriten mit den Favoritnern, die ja selbst Expert_innen für ihren Bezirk seien, und die Beschäftigung mit Bezirksgeschichte, aber auch Kunst im öffentlichen Raum. Jährlich veranstalte er das Stumm- und Laut-Festival zu Avantgardefilmen der 20er-Jahre, die in den Sascha-Filmstudios am Laaerberg gedreht worden sind und nun mit gegenwartsavantgarder Musik Open Air präsentiert werden. Kulturraum 10 vernetze sich mit anderen Vereinen und aus ihm entstünden weitere Initiativen wie die Aktion „Offener Reumannplatz“, der die „Neugestaltung“ des Parks mit einem Gastropavillon mit Prosecco-Bar verhindert habe. Eine „Schnelle Eingreiftruppe“ habe in einer ironischen Aktion den Platz in Slow Motion vermessen. Nächstes Projekt sei die Schaffung eines „Museums der Migration“, für die Kultur10 wieder mit anderen Akteuren kooperieren wird.
In der Diskussion, die Michael Kerbler mit den Fragen eröffnete „Wo ist Voraus? Wo ist Kultur? Wo ist demokratische Mitbestimmung? Wo ist Partizipation?“, betonte Klaus Atzwanger noch einmal: Wesentlich sei der Brückenschlag – auch von Elementen, Ideen, Dingen, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben, wo wir es nicht erwarten würden. Astrid Mager zeigte sich skeptisch bezüglich des Hypes Künstlicher Intelligenz: Diese sei ja nur ein Kumulieren von großen Datenmengen, die aber schon gebiast, also verzerrt sind. Unsere ethischen Anstrengungen könnten da wenig ausrichten. Auch Volkmar Klien ist beunruhigt darüber, was diese Alien-Gesellschaft Mensch macht. Das AI lerne alles, was schlecht ist. Im Zentrum und am Anfang müsse immer stehen, was ich eigentlich will. Für ihn sei das Musizieren eine Gestaltung von Gesellschaft. Interessant sei, diese Netzwerke anzubinden an einen Ort. Das sei zwar Low techn. Aber wenn man sich anschaue, wie viele Dinge mit wieviel Aufwand nicht funktionierten… Der allgemeine Wunsch nach entschleunigten partizipativ organisierten Begegnungsräumen wurde laut, Orte wie etwa die Alte Schmiede. Georg Kö stellte fest: Avantgarde müsse nicht unbedingt verkrampft innovativ sein. Es gehe doch viel mehr darum, wie die Dinge angeordnet seien und welchen Sinn wir darin fänden. Dass das unbedingt neu sein müsse, erscheine ihm eher reaktionär.
Abschließend überlegte Harald Katzmair mit Vortragenden und Auditorium gemeinsam, welches Thema einer Avantgarde 2020 zukommen könnte. Wir leben in einer Zeit der Überproduktion und unendlicher Fragmentierung, in einer Überkumulierung von Zeichen und völligem Mangel an Sinn, war seine Gegenwartsdiagnose. Die Aufmerksamkeit sei völlig gesättigt. Nahe Freundschaften würden verloren gehen. In dieser Rastlosigkeit seien wir in uns selbst gespalten. Die Frage ist aber doch: Warum gibt es Musik? Warum gibt es Tanz? Warum gibt es Bilder? Warum gibt es Film? Es gehe bei Kunst um unser fundamentales In-der-Welt-Sein, um die Arbeit am Symbolischen, jenseits des Verkarsteten, des enttäuschenden Ereignisses, das wir Endprodukt nennen. Es gehe um Sense-Making – und das sei ein komplexer, schwieriger Prozess. Alles erschöpfe sich, müsse immer neu errungen und neu ausgemessen werden. Die Avantgarden hätten immer versucht die bestehenden Fluchtlinien aufzubrechen um etwas zu finden, was Sinn macht. Avantgarde, das hätten wir heute in vielen Facetten gehört, ist eine, die sich immer wieder auf dieses riskante Extrem einlasse – auf den prekären Versuch des Anderswerdens, der Suche nach neuen Konzepten, neuen Formen des Zusammensetzens, damit wir einen Sinn finden. Die Avantgarde werde heute bei uns nicht politisch unterdrückt, sondern sie laufe Gefahr, im weißen Rauschen der Überproduktion unterzugehen. Er sei sich nicht sicher, ob wir Feuer mit Feuer bekämpfen könnten, selber unsere Bots produzieren und gegen andere Bots ins Rennen schicken, um die Konzerne zu konkurrieren. Der Raum des nicht Gesagten werde immer größer, der Sinn immer kleiner, die psychische Entropie nehme zu. Wir benötigen einen geordneten Rückzug – eine „Arrieregarde“, war sein Befund. Die Philosophia beginne mit der Freundschaft und der Muße. Aber gegenwärtig lösten sich die Freundschaften auf in Konkurrenz und die Muße in Rastlosigkeit, um in dieser Aufmerksamkeitsökonomie erfolgreich zu sein. Diese Egozentrik, dieser unvorstellbare Narzissmus bewirke, dass wir nicht mehr aufeinander achten und die Freundschaft sterbe. Wir müssten Orte schaffen, wo wir uns sammeln können, eine temporär autonome Zone, in der es möglich ist, Fragen zu stellen. Alle Netzwerke die gelingen, würden sich über Small Groups bilden. Wir bräuchten wieder Small Groups, in denen wir große Fragen stellen, auch wenn wir sie nicht beantworten können. Was machen wir? Was fühlt sich sinnvoll an und was nicht? Wie schaffen wir es, das Leben zum Gelingen zu bringen? Welche Quellen sind für uns noch aktiv? Oft gehe es weniger darum, der Welt noch etwas hinzuzufügen als viel eher darum, etwas freizulegen, wie Archäologen den Schutt wegzuräumen. Der gesellschaftliche Infarkt sei schon da und wir müssten wieder zu den Anfängen zurück. Wir müssten den Mut haben, auch naive Fragen zu stellen. – Drei Gruppen seien es, die wir für eine neue Avantgarde miteinander in Resonanz bringen sollten: Digitale Ingenieure, bei den es schon Brüchigkeitsanzeichen gibt. Dort seien viele, die nicht wollten, dass die Welt so vor die Hunde gehe, die eine neue Sprache entwickelten, die eine humanistische Sicht einbrächten, Fragen über Brain Hacking, Sensus Hacking… Weiters Künstler / Künstlerinnen, denen es darum gehe, das Nicht-Sagbare sagbar zu machen, das Unsichtbare sichtbar zu machen, um die Arbeit am Symbolischen, die Arbeit an dem, was wir nicht mit Worten sagen können. Schließlich noch die Aktuare, die Investment Guys und Risikomanager, die in einer völlig disconnected world lebten. Die Frage sei nicht: Wer ist Beeinflusser, sondern wer ist beeinflussbar? „Sucht Euch die Beeinflussbaren unter den Ingenieuren und den Künstlern und den Investment Guys“, forderte Harald Katzmair die Anwesenden auf. Denn für die Zukunft unserer Kultur sei es entscheidend, solche hybriden Netzwerke zu schaffen, aber auch nicht zu vergessen, die Freundschaft ernst zu nehmen, aufeinander zu schauen, solidarisch zu sein und Fragen zu stellen.