Auf engem Raum – Orte und Netzwerke der Wiener Kunstavantgarde nach 1945
Der vorliegende Beitrag zum Panel „Wiener Grund“ ist dem Raum gewidmet, in dem sich die Wiener Kunstavantgarde nach 1945 formierte. Der Raum, auf den in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg der Großteil der Aktivitäten der Künstler konzentriert war, war die Innere Stadt, der erste Wiener Gemeindebezirk. Damals wie heute umfasst(e) die Innere Stadt ca. drei Quadratkilometer. Im Jahr 1951 bewohnten knapp 35.000 Menschen die 763 Gebäude der Inneren Stadt (Stadt Wien 2010a, b, c).
Im Folgenden werden drei Themenbereiche behandelt: Der erste Abschnitt ist den Rahmenbedingungen der Herausbildung der Wiener Kunstavantgarde nach 1945 und dem räumlichen Setting gewidmet. Im zweiten Teil werden anhand von drei Kunstprojekten die Auswirkungen der räumlichen Konzentration der Einrichtungen der Kunstavantgarde auf die intellektuellen Netzwerke der Akteure analysiert. Im dritten Abschnitt wird ein kurzer Ausblick auf die Entwicklung der Wiener Kunstszene nach 1975 gegeben.
Eingangs noch ein paar Anmerkungen zum Begriff der Avantgarde und zu den Wiener Künstlern. Als Kunstavantgarde wurde im Rahmen der Gruppe ViennAvant jede in der Wiener bzw. österreichischen Kunst zwischen Mitte der 1940er und Mitte der 1970er Jahre vertretene avancierte Position definiert. Zu ergänzen ist hier, dass sich die Wiener Kunstschaffenden weitestgehend als eine rein künstlerische Avantgarde betrachteten.
Die Avantgardekünstler der Nachkriegszeit deckten ein breites Kunstspektrum ab. Im Bereich der Literatur zählten die Wiener Gruppe (H. C. Artmann, Gerhard Rühm, Oswald Wiener, Friedrich Achleitner und Konrad Bayer), die um die Zeitschrift Wespennest versammelten Autoren (Gustav Ernst, Peter Henisch, Helmut Zenker u. a.) sowie die Gruppe Hundsblume (Robert Schindel, Leander Kaiser u. a.) zu den wichtigsten Zusammenschlüssen der Wiener Avantgardekünstler. Für die Bildende Kunst sind zunächst die spätere Wiener Schule des Phantastischen Realismus (Erich Brauer, Ernst Fuchs, Rudolf Hausner, Wolfgang Hutter, Anton Lehmden u. a.) sowie die Gruppe St. Stephan (Wolfgang Hollega, Josef Mikl, Markus Prachensky und Arnulf Rainer) zu nennen. Die wichtigsten Architektenteams waren Coop Himmelb(l)au (Wolf D. Prix, Helmut Swiczinsky und Helmut Holzer), Haus-Rucker-Co (Laurids und Manfred Ortner, Günther Zamp Kelp und Klaus Pinter) sowie Zünd Up (Timo Huber, Bertram Mayer, Michael Pühringer und Hermann Simböck). Die Gruppe der Wiener Aktionisten bestand aus Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler. Experimentalfilmer waren u. a. Kurt Kren, Peter Kubelka, Ferry Radax und Ernst Schmidt jr. Später kamen dazu Videokünstler wie Peter Weibel und Valie Export. Für den Bereich der Musik sind exemplarisch Uzzi Förster, Joe Zawinul, die Masters of Unorthodox Jazz (Alaeddin Adlernest, Harun Ghulam Barabbas, Walter Muhammad Malli, Anton Michlmayr und Richard Ahmad Pechoc), die Reform Art Unit (Walter Malli, Sepp Mitterbauer, Fritz Novotny u. a.), Friedrich Gulda und der Chansonier André Heller zu nennen. Zu den angeführten Künstlerensembles kommt noch Rolf Schwendters informelle Gruppe (Freundeskreis) hinzu, die einen großen und wechselnden Personenkreis umfasste (Rohn 2004a).
1 Rahmenbedingungen und räumliches Setting
Zu den Bedingungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg das Leben in Wien prägten, zählten u. a. die bis 1955 bestehende Besatzung durch die Alliierten, die enormen Kriegsschäden an den Gebäuden, der Mangel an Nahrungsmitteln, Heizmaterial und anderen notwendigen Dingen, die Lebensmittelkarten und der Schwarzmarkt. Wie der Maler Kurt Moldovan berichtet, mussten die Studenten der Akademie für Bildende Kunst am Schillerplatz vor der Aufnahme ihres Studiums erst bei den Reparaturarbeiten mithelfen (Habarta 1996). Große Defizite wies auch die von Künstlern benötigte Infrastruktur auf: Es mangelte an Ausstellungsräumen, Auftrittsorten, dem Kunsthandel, der Fachliteratur usw. Um ein Klischee zu bemühen: Die Lage im Wien der Nachkriegszeit entsprach in etwa dem Bild, das Carol Reed in seinem Film „Der dritte Mann“ (1949) zeichnet.
Wegen der nach dem Krieg daniederliegenden Wirtschaft bestand in Wien auch in zentralen Lagen eine geringe Nachfrage nach Geschäftslokalen. Leerstehungen und günstige Mieten boten den Wiener Avantgardekünstlern die Möglichkeit, die ungenutzten Räume für sich in Anspruch zu nehmen.
Ein geeignetes theoretisches Konzept zur Erklärung der Standortwahl der Avantgardekünstler und zur subsequenten Ausbreitung von Kulturprojekten repräsentiert die geographische Innovations- und Diffusionsforschung. In diesem Kontext wurden verschiedene Diffusionsmodelle (Hierarchieeffekte, Nachbarschaftseffekte, Hauptinformationsfeld usw.) entwickelt. Bei der Verbreitung von Innovationen in Städtesystemen dominieren hierarchische Effekte; intra-urban erfolgt die Diffusion von Neuerungen vom Zentrum hin zur Peripherie, d. h. zentrifugal. Dies ist auch im gegenständlichen Bereich der Fall (vgl. Ritter 1998, Staudacher 2000, Windhorst 1983).
Der zentrale Stellenwert kommt in dem gegebenen Kontext jedoch den Künstlern und anderen Protagonisten zu. Gemäß der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour sind hier die Künstler als wichtigste Handlungsträger einzustufen. Eine originelle Kurzdefinition Latours (2007: 81) dazu lautet „Akteur ist, wer von vielen anderen zum Handeln gebracht wird“. Als wesentlichste Bestimmungsmerkmale des Akteurs hält der französische Soziologe fest, dass dieser einen Unterschied macht, eine Veränderung hervorruft und Spuren hinterlässt (Latour 2007). All das trifft eindeutig auf die Wiener Avantgardekünstler zu.
Zu berücksichtigen ist hier weiters, dass die von den Avantgardekünstlern geschaffenen bzw. bespielten Orte auch in eine gewisse Konkurrenz zu bestehenden Einrichtungen wie Burgtheater, Staatsoper, Künstlerhaus, Musikverein usw. traten. Die Sezession, die Wiener Kunsthalle in der Zedlitzgasse und andere Orte wurden teilweise auch von nachrückenden Künstlern wie jenen des Art Clubs für Ausstellungen genutzt.
In den späten 1940er und 1950er Jahren waren in Wien künstlerische Ereignisse, Auftrittsmöglichkeiten, Ausstellungsräume usw. wesentlich dünner gesät als heute. Friedrich Achleitner, als Mitglied der Wiener Gruppe bei vielen Veranstaltungen der Avantgardekünstler präsent, hält dazu fest: “Heute ist natürlich das Teuflische an der Geschichtsbetrachtung, dass diese Ereignisse, die damals ganz spärlich waren, quasi auf eine Ebene gepresst werden und man das Gefühl hat, da war irrsinnig viel los. In Wirklichkeit war wenig los oder fast nichts.” (Interview Achleitner, 06. 04. 2004).
Um die von Achleitner kritisierte Kompression der Zeit zu vermeiden, schlägt der Autor die Gliederung des Untersuchungszeitraums in folgende drei Zeitabschnitte vor: erstens die zweite Hälfte der 1940er und die 1950er Jahre, zweitens die Jahre 1960 bis 1967 und drittens 1968 und die darauffolgenden Jahre (vgl. die Angaben zur Karte).
An dieser Stelle noch einige Vorbemerkungen zu der Karte zu den Orten der Wiener Kunstavantgarde: Charakteristisch für den Zeitraum 1945 bis 1975 ist eine starke räumliche Konzentration der Einrichtungen, Aufführungsorte und Treffpunkte der Wiener Avantgardekünstler auf das unmittelbare Stadtzentrum. Bei den nachstehend dargestellten Orten wurde der Avantgardebegriff etwas weiter gefasst als oben ausgeführt. Die in der Karte festgehaltenen Einrichtungen sind (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) als Beispiele aufzufassen.
Karte: Orte der Wiener Kunstavantgarde im ersten Wiener Gemeindebezirk (1945 bis 1975)
Die Karte listet 24 Orte der Wiener Kunstavantgarde im ersten Wiener Gemeindebezirk auf. Ausgewählt wurden primär Orte mit einem starken Bezug zu den Avantgardekünstlern. Das sind Einrichtungen, die von den Avantgardekünstlern gegründet bzw. häufig für Produktionen genutzt wurden. In der Karte sind diese in roter Farbe dargestellt. Weitere Veranstaltungsorte sind schwarz sowie Kaffeehäuser und sonstige Treffpunkte der Künstler blau markiert. Im Folgenden wird eine kommentierte Legende zur Karte geboten:
1 Forum Kino: Das 1950 errichtete und 1974 wieder abgerissene Forum Kino in der Stadiongasse war der erster Spielort der Viennale. Vorläufer des Filmfestivals war die erstmals 1960 von Sigmund Kennedy u. a. veranstaltete Internationale Festwoche der interessantesten Filme.
2 Universität Wien: Im Hörsaal 1 des Neuen Institutsgebäudes fand im Juni 1968 die Veranstaltung Kunst und Revolution der Wiener Aktionisten statt.
3 Café Glory: Das gegenüber dem Hauptgebäude der Universität Wien gelegene Café Glory war ein gut besuchter Künstlertreffpunkt.
4 Galerie Junge Generation: Die Galerie wurde 1971 am Börseplatz gegründet.
5 Komödianten am Börseplatz: Die 1958 von Conny Hannes Meyer gegründete Gruppe Komödianten spielte von 1963 bis 1973 am Börseplatz, anschließend im Künstlerhaus.
6 Club Vanilla 1: In den Jahren 1970 bis 1971 war der Club Vanilla an der Ecke Freyung/ Strauchgasse situiert.
7 Österreichisches Filmmuseum: Das 1964 von Peter Konlechner und Peter Kubelka gegründete Filmmuseum führte seine Vorführungen zunächst im Rahmen des Cinestudios der Hochschülerschaft an der Technischen Hochschule Wien und im Nestroy-Kino durch, ab 1965 in der Albertina.
8 Der Strohkoffer: Der Strohkoffer war das erste Lokal des Art Clubs und hatte von Ende 1951 bis Anfang 1953 unter der Loos-Bar, in der Kärntnerstraße, Bestand.
9 Café Hawelka: Das bereits zuvor bestehende Lokal in der Dorotheergasse wurde 1939 von Leopold Hawelka übernommen und fungierte in der Nachkriegszeit als Literatencafé und Künstlertreffpunkt.
10 Chattanooga: Die Wiener Gruppe eröffnete 1964 mit ihrer letzten Lesung (Kinderoper) das von Uzzi Förster am Graben etablierte Jazzlokal.
11 Fatty’s Saloon: Der Jazzclub am Petersplatz wurde von 1958 bis 1963 von Fatty George (Franz Georg Preßler) geführt und erfüllte auch die Funktion eines Szenetreffs.
12 Gutruf: Das in der Milchgasse gelegene Lokal diente ab den frühen 1950er Jahren als Künstlertreffpunkt.
13 Theater der Courage: Das von Stella Kadmon zunächst unter dem Namen Der liebe Augustin geführte Theater bestand seit 1931 im Keller unter dem Café Prückel in der Biberstraße. 1945 wurde dieses von Fritz Eckhardt wiedereröffnet und trug ab den späten 1940er Jahren den Namen Theater der Courage. 1960 erfolgte die Übersiedelung an den Franz-Josefs-Kai.
14 Neues Theater am Kärntnertor: Das von Gerhard Bronner geführte Theater bestand von 1959 bis 1973 in der Walfischgasse.
15 Adebar: Die in der Annagasse gelegene Adebar (Club Exil) war ein Jazzlokal, das als Künstlertreff partiell die Nachfolge des Strohkoffers antrat.
16 Club Vanilla 2: In den Jahren 1972 bis 1974 befand sich der Club Vanilla in der Hegelgasse.
17 Kleines Café: Hanno Pöschls Kleines Café am Franziskanerplatz wurde 1970 gegründet sowie Mitte der 1970er Jahre von Hermann Czech erweitert und umgestaltet.
18 Eden Bar: Das etwa seit 1911 in der Liliengasse bestehende Lokal diente in den 1950er Jahren u. a. als Treffpunkt von Wiener Kabarettisten wie Helmut Qualtinger und Gerhard Bronner.
19 Neue Galerie des Art Clubs: Die Neue Galerie war der zweite Ausstellungsraum des Art Clubs und bestand im Frühjahr 1953 über dem Dom-Café, in der Singerstraße.
20 Galerie (nächst) St. Stephan: Die 1954 von Monsignore Otto Mauer in der Grünangergasse eingerichtete Galerie beherbergte zuvor die Neue Galerie.
21 Galerie Ariadne: Die Galerie wurde 1968 in der Bäckerstraße gegründet und bestand an diesem Ort bis 2004.
22 Theater am Fleischmarkt: Das 1958 von Herbert Wochinz am Fleischmarkt gegründete Theater hatte nur kurzen Bestand. 1959 fanden in den Räumlichkeiten Performances von Markus Prachensky und Georges Mathieu statt.
23 Galerie im Griechenbeisl: Die Galerie wurde von Christa Hauer-Fruhmann und Johann Fruhmann in den Jahren 1960 bis 1971 am Fleischmarkt betrieben.
24 Buchhandlung Brigitte Hermann: Die Ende der 1960er Jahre von Brigitte Hermann (Salanda) am Stubenring gegründete Buchhandlung übersiedelte in den 1970er Jahren in die Grünangergasse (Quellen: Rohn 2004a, 2006 sowie ergänzende Internetressourcen).
Wie bereits ausgeführt waren die Aktivitäten der Avantgardekünstler in der Zeitspanne von 1945 bis 1975 weitgehend auf den ersten Bezirk konzentriert. Lediglich einige wenige „Standorte“ der Avantgardekünstler waren außerhalb des Zentrums situiert. Zu diesen zählten u. a. das Museum des 20. Jahrhunderts („Zwanzgerhaus“) beim ehemaligen Südbahnhof (3. Bezirk), die Galerie Roter Apfel an der Landstraßer Hauptstraße (3.), das sog. Porrhaus am Karlsplatz (4.), das Neue Theater in der Scala in der Favoritenstraße (4.), das Theater Experiment am Liechtenwerd in der Liechtensteinstraße (9.) sowie das Atelier von Otto Mühl in der Perinetgasse im 20. Bezirk.
2 Auswirkungen der räumlichen Konzentration der Einrichtungen auf die intellektuellen Netzwerke der Künstler
Die Karte zeigt, dass der Großteil der Locations der Wiener Avantgardekünstler in fußläufiger Distanz zueinander im ersten Bezirk situiert war. In dem oben angeführten Statement weist Achleitner auf die Überschaubarkeit der jungen Kunstszene im Nachkriegswien hin. Diese Szene war stark kunstspartenübergreifend organisiert. Der Diskurs über die Kunstgattungen hinweg wurde durch die räumliche Nähe der Einrichtungen und die geringe Zahl der Künstlergruppen stark begünstigt. Die angeführten Galerien, Ausstellungsräume, Theater, Musiklokale, Film-Locations, Clubs und Treffpunkte dienten der gemeinsamen Reflexion und dem Diskurs, der künstlerischen Produktion sowie der Präsentation von Kunstwerken.
Die genannten Einrichtungen wurden von Künstlern verschiedener Sparten frequentiert. Die enge Vernetzung der Künstler wird im Folgenden am Beispiel von drei multidisziplinären Kunstprojekten dargelegt, die in zeitlicher Abfolge zueinander liegen. Diese sind der Art Club (Strohkoffer), die Galerie (nächst) St. Stephan und der Club Vanilla.
Der Art Club (1947–1954), dem etwa 60 bildende und andere Künstler, Kunsttheoretiker und Kunstkritiker angehörten, repräsentiert die erste Vereinigung Wiener Avantgardekünstler der Nachkriegszeit. Der Art Club wurde 1947 von dem Maler Gustav Beck, der in den Anfangsjahren auch die operative Leitung der Vereinigung innehatte, ins Leben gerufen. Gründungspräsident war Albert Paris Gütersloh. In der ersten Phase des Art Clubs, die in etwa bis Ende 1951 reicht, stand die Ausstellungstätigkeit der bildenden Künstler im Mittelpunkt. Das hier primär interessierende Clublokal der Vereinigung, der Strohkoffer, wurde auf Initiative von Alfred Schmeller, dem zweiten Leiter des Art Clubs, gegründet. Dieses befand sich unter der Loos-Bar, in der Kärntner Straße 10. Der von einem gewissen Bohème- und Existentialistenflair umgebene Strohkoffer bestand von Ende 1951 bis Anfang 1953. Die kurze Zeitspanne des Strohkoffers repräsentiert die zweite Phase des Art Clubs. Nach der Auflösung des Strohkoffers wurde in den Räumlichkeiten über dem Dom-Café, in der Singerstraße 10 die Neue Galerie des Art Clubs eingerichtet. Diese hatte jedoch nur wenige Monate Bestand und wurde bereits im Juni 1953 wieder geschlossen.
Die im Art Club vertretenen Maler waren primär in zwei Gruppen gegliedert: zum einen die abstrakten Künstler unter der Führung von Gustav Beck und Carl Unger und zum anderen die von Edgar Jené angeführte Gruppe der Surrealisten, größtenteils die Maler der späteren Wiener Schule des Phantastischen Realismus.
Neben den Malern frequentierten viele Künstler anderer Sparten den Strohkoffer des Art Clubs. In dem kleinen Clublokal traten beispielsweise die Jazzmusiker Uzzi Förster und Joe Zawinul sowie Friedrich Gulda auf. Von den Literaten waren u. a. H. C. Artmann, Andreas Okopenko und Paul Celan vertreten; auch der junge Helmut Qualtinger besuchte die Einrichtung.
Ein Höhepunkt in der kurzen Geschichte des Strohkoffers war der Besuch des französischen Autors und Dramatikers Jean Cocteau im Jahr 1952. Darüber hinaus gab es eine rege Interaktion der Wiener Künstler mit der Pariser Kunstszene. Nachdem bereits vor 1945 Künstler wie Edgar Jené in Paris gelebt hatten, reisten in der Nachkriegszeit Maler wie Brauer, Fuchs, Hundertwasser, Lassnig und Rainer in die Seine-Metropole (Rohn 2004a).
Die im Jahr 1954 gegründete und bis heute bestehende Galerie (nächst) St. Stephan schließt zeitlich und personell fast unmittelbar an den Art Club bzw. an den Strohkoffer an. Initiator und prägende Persönlichkeit der Galerie (nächst) St. Stephan war der bereits im Rahmen des Art Clubs aktive Monsignore Otto Mauer. Die Einrichtung wird primär mit der Malergruppe St. Stephan assoziiert. Weitere wichtige in der Galerie vertretene Maler waren Ernst Fuchs, Friedrich Hundertwasser, Kiki Kogelnik und Maria Lassnig (Rohn 2004a).
Zu den Protagonisten der Galerie (nächst) St. Stephan zählten weiters die Literaten der Wiener Gruppe. 1958 veranstalteten beispielsweise Friedrich Achleitner, Konrad Bayer und Gerhard Rühm vor Ort eine Lesung. 1963 präsentierte Rühm in der Galerie eine Ausstellung mit dem Titel „Konstellationen und Montagen. Visuelle Texte, Photomontagen, Hörtexte, Architektur, Literatur“. Peter Kubelka – Avantgardefilmer und späterer Mitgründer des Östereichischen Filmmuseums – wurde von Otto Mauer in der Galerie mit vielen wichtigen Personen bekanntgemacht. Zu den Freunden Kubelkas zählte beispielsweise der Maler Markus Prachensky. Wie Robert Fleck (1982) ausführt, waren bei den Vernissagen in der Galerie mit den Malern, der Wiener Gruppe, den Aktionisten, den Bildhauern und den funktionalistischen Architekten mehrere Avantgardegruppen vertreten.
Der von Willi und Christl Hopfinger geleitete Club Vanilla bestand von 1970 bis 1974. In den Jahren 1970 bis 1971 war der Club an der Ecke Freyung/ Strauchgasse lokalisiert. Von 1972 bis 1974 befand sich das Clublokal in der Hegelgasse. Der Schriftsteller Paul Kruntorad (1994: 9) charakterisierte die Einrichtung als “Szenetreff (…) zwischen Stammbeisl, Club und Salon”. Im Club Vanilla, der bis zu 2.000 Mitglieder umfasste, trafen einander Jugendliche, angehende Künstler aller Sparten und sog. Prominente (Rohn 2004a).
Zu den Mitgliedern des Club Vanilla, von denen viele später arrivierte Künstler wurden, zählten u. a. die Maler Christian Ludwig Attersee, Hubert Aratym und Peter Pongratz sowie der Zeichner Walter Schmögner. Von den Architekten waren beispielsweise die zu den Mitbegründern des Clubs gehörende Gruppe Haus-Rucker-Co sowie Hermann Czech, Luigi Blau und Wilhelm Holzbauer vertreten. Darüber hinaus frequentierten Musiker wie Wolfgang Ambros und Edek Bartz, Medienkünstler wie Peter Weibel und Susanne Widl, der Filmjournalist Peter Hajek, der Autor Paul Kruntorad, der spätere MAK-Direktor Peter Noever, der Sänger und Allroundkünstler André Heller sowie Bildhauer, Schauspieler und Journalisten den Club (Dertnig und Gallmetzer 1994).
Attersee (1994: 142) fasst zu der Gemeinschaft der im Club Vanilla vertretenen Künstler zusammen: ”… diese intolerante Zeit hat eine Gruppierung zwischen Künstlern ermöglicht, wie kaum in einem anderen Land der Welt, ein Zusammenhalten fast aller künstlerischen Aussagemöglichkeiten war möglich.”
Am Beispiel der im Art Club, in der Galerie (nächst) St. Stephan und im Club Vanilla vertretenen Künstler kommen die interdisziplinären Netzwerke der Avantgardekünstler deutlich zum Ausdruck. Dazu hält Friedrich Achleitner im Interview fest: “Es war alles total gemischt, jeder hat jeden gekannt: Getroffen hat man sich in Kaffeehäusern, Wirtshäusern, Ateliers usw. Da ist man halt so herumgezogen. Irgendwo war immer etwas los.”
Aufgrund der – im Vergleich zur Gegenwart – geringen Zahl an Einrichtungen kam es zwangsläufig zu einem ständigen Zusammentreffen der Akteure. Heute wird das mit der Bezeichnung Fühlungsvorteile versehen. Die Überschreitung der Kunstsparten war durch die räumliche Nähe bereits angelegt. Der Austausch von Positionen und die Debatten erfolgten unmittelbar vor Ort – auch die Konflikte wurden in situ ausgetragen. Es existierten sozusagen dichte intellektuelle Netzwerke.
Ein weiteres gutes Beispiel für die kunstspartenübergreifende Zusammenarbeit der Wiener Künstler repräsentiert die 1964 entstandene Vertonung von François-Villon-Texten. H. C. Artmann übertrug die Texte in die Wiener Dialektsprache; Helmut Qualtinger rezitierte diese. Die von Fatty George dazu gespielte Musik stammte von Ernst Kelz.
In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg waren nicht nur die Künstler-Locations, sondern häufig auch die finanziellen Ressourcen der Avantgardekünstler begrenzt. Einige Mitglieder der Wiener Gruppe wohnten beispielsweise noch bei ihren Eltern. Achleitner steuert dazu im Gespräch folgendes Bonmot bei: “Ich habe einmal eine Theorie aufgestellt. Es hat einen Zwanzig-Schilling-Schein gegeben, den sich dauernd jemand ausgeborgt hat. Wir haben jahrelang von einem ‚Zwanziger’ gelebt. Es war wirklich so: ‚Borg’ mir einen Zwanziger’ war eine stehende Wendung, ein Topos, kann man fast sagen.”
3 Ausblick zur weiteren Entwicklung nach 1975
In den 1970er Jahren setzte eine starke Ausbreitung der Kultureinrichtungen in die das Stadtzentrum umschließenden Bezirke (2 bis 9) ein, die in weiterer Folge auch die Außenbezirke (10 bis 23) erreichte. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wurden die Arena (3. Bezirk) und das Amerlinghaus (7.) gegründet. In den 1980er Jahren entstanden das Werkstätten- und Kulturhaus (9.), die Szene Wien (11.), die Kulisse und das Metropol (beide 17.) sowie das Rockhaus (20.). Ende der 1990er Jahre begann mit dem Meidlinger Kabelwerk, Soho in Ottakring und anderen Projekten ein Boom neuer Kulturinitiativen in den Wiener Außenbezirken (Rohn 2003, 2004b, 2007).
Ebenso wie in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg werden auch in der Gegenwart von jungen Künstlern und anderen Akteuren in der Stadt neue Räume erschlossen. Zu den innerhalb des Wiener Gürtels rezent entstandenen Szenevierteln zählen beispielsweise der Donaukanal (1./ 2. Bezirk), der Karmelitermarkt (2.), das Freihausviertel (4.), und die Gumpendorfer Straße (6.). Neben dem Kabelwerk und Soho sind die Ankerbrotfabrik (Künstlerateliers, Theateraufführungen usw.) im 10. Bezirk, die Sargfabrik (14.), Brick 5 und Salon 5 (15.), Bach, Café Concerto, MASC Foundation, Ragnarhof usw. (16.), Rampenlicht-Theater und Theater des Augenblicks (18.), Theater zum Himmel, Local und Zacherlfabrik (19.), Aktionsradius Wien und Vindobona (20.), Gloria Theater und Davis (21.) sowie Orpheum, Gruam und Kaisermühlner Werkl (22.) als wichtigste neuere Kulturprojekte außerhalb des Gürtels zu nennen.
Im Gegensatz zum Betrachtungszeitraum sind heute die einzelnen Szenen räumlich weit voneinander entfernt. Im Freihausviertel wird kaum wahrgenommen, was beispielsweise in Ottakring passiert. Im Vergleich zu den Nachkriegsjahrzehnten arbeiten heute wesentlich mehr Künstler in Wien. Die Künstlerszenen sind jedoch nicht nur nach den Stadträumen, sondern auch nach den Disziplinen stärker differenziert.
Die Prozesse der Entstehung und Ausbreitung von Kulturprojekten können mit Hilfe der beiden oben skizzierten theoretischen Ansätze gut erklärt werden. Im Mittelpunkt stehen nach wie vor die Künstler, Bezirksbewohner und weiteren Protagonisten, die als bestimmende Akteure neue Initiativen setzen. Auf abstrakter Ebene können die beschriebenen Prozesse mit dem theoretischen Rüstzeug der Innovations- und Diffusionsforschung analysiert werden.
Wie bereits ausgeführt bilden sich heute im gesamten Wiener Stadtgebiet neue Künstlerszenen und Kulturprojekte heraus. Die Vielfalt und Dichte der Einrichtungen macht es schwierig zu bestimmen, welche Projekte als Avantgarde, Off-Szene oder als Alternativkultur einzustufen sind. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage bleibt der weiteren Diskussion vorbehalten.
Literatur:
Achleitner, Friedrich, 2004. Interview des Autors mit dem Schriftsteller und Architekturtheoretiker (Atelier Achleitner in der Windmühlgasse, 6. Bezirk, 06. 04. 2004).
Attersee, Christian Ludwig, 1994. Christian Ludwig Attersee. In: Dertnig, Christiane und Lorenz Gallmetzer, 1994. Vanilla: Ein Lokal und seine Zeit: 142–143.
Dertnig, Christiane und Lorenz Gallmetzer (Hg.), 1994. Vanilla: Ein Lokal und seine Zeit; Wien 1970–1974. Wien: Picus.
Fleck, Robert, 1982. Avantgarde in Wien. Die Geschichte der Galerie nächst St. Stephan, 1954–1982. Kunst und Kunstbetrieb in Österreich. Band 1: Die Chronik. Wien: Löcker.
Habarta, Gerhard, 1996. Frühere Verhältnisse. Kunst in Wien nach ´45. Wien: Der Apfel.
Kruntorad, Paul, 1994. Vanilla. Eine Erinnerung. In: Dertnig, Christiane und Lorenz Gallmetzer (Hg.). Vanilla: Ein Lokal und seine Zeit: 9.
Latour, Bruno, 2007. Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Ritter, Wigand. 1998. Allgemeine Wirtschaftsgeographie. Eine systemtheoretisch orientierte Einführung. München-Wien: Oldenbourg Verlag.
Rohn, Walter, 2003. Wien. Die neue Kultur an der Peripherie der Stadt. In: dérive 4, 2 (Heft 11): 30–31.
Rohn, Walter, 2004a. Die Entwicklung der Wiener Kunst- und Kulturavantgarde von 1945 bis 2003 in ausgewählten Beispielen. Forschungsstipendium der Magistratsabteilung 7, Kultur, Wissenschafts- und Forschungsförderung. Wien (Mimeo).
Rohn, Walter 2004b. Culture and Urban Development. New Cultural Infrastructures on the Outskirts of Vienna and Paris. In: Borsdorf, Axel und Pierre Zembri (Hg.). European Cities. Insights on Outskirts. Structures. Cost C10 Publications & Papers. WG 2 – Structures. Paris: 149–167.
Rohn, Walter, 2006. Die Wiener Kunstavantgarde der Jahre 1945 bis 1974. In: Geschäftsgruppe Kultur und Wissenschaft der Stadt Wien (Hg.). Wissenschaftsbericht der Stadt Wien 2005. Wien: 187–188.
Rohn, Walter, 2007. Peripherie und Kultur – zu den gesellschaftlichen Auswirkungen von Kulturinitiativen für die Entwicklung der Wiener Außenbezirke. In: SWS-Rundschau 47, 3: 321–342.
Stadt Wien (Hg.), 2010a. Flächen der Gemeindebezirke 2010. Magistrat der Stadt Wien. http://www.wien.gv.at/statistik/daten/pdf/flaeche-bezirke.pdf (10. 08. 2010).
Stadt Wien (Hg.), 2010b. Bevölkerungsstand nach Geschlecht und Bezirken 1869–2008. Magistrat der Stadt Wien. http://www.wien.gv.at/statistik/daten/pdf/bevoelkerungsstand.pdf (10. 08. 2010).
Stadt Wien (Hg.), 2010c. Entwicklung des Gebäudebestandes nach Bezirken 1951–2001. Gebäude zum Zeitpunkt der Großzählung. Magistrat der Stadt Wien. http://www.wien.gv.at/statistik/daten/pdf/gebaeude-entwicklung.pdf (10. 08. 2010).
Staudacher, Christian, 2000. Wirtschaftsgeographie-VL. Eine Einführung. bfi Wien Euroteam-Fachhochschul-Studiengangsbetriebs-Gesellschaft m. b. H. Wien.
Windhorst, Hans-Wilhelm, 1983. Geographische Innovations- und Diffusionsforschung. Erträge der Forschung 189. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Walter Rohn, Dr., Studium der Politik- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Wien. Seit 1988 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Stadt- und Regionalforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Forschungsschwerpunkte: Kultur und Stadtentwicklung, Wiener Kunstavantgarde, Innovationssysteme sowie internationale Kommunikationspolitik. Forschungsprojekte: Neue Kulturinitiativen als Motoren für die Entwicklung peripherer Stadtteile, UNESCO-Kommunikationspolitik, Regionale Innovationspotentiale und innovative Netzwerke in der metropolitanen Verdichtungsregion Wien; Publikation (Auswahl): Kultur und Peripherie – zu den gesellschaftlichen Funktionen von Kulturinitiativen für die Entwicklung der Wiener Außenbezirke, in: SWS-Rundschau 47, 3: 321–342.