Referat August Ruhs

Körperbearbeitungen

Kunst und Körper

Gegenwärtig und gezwungenermaßen sind sowohl der klinische als auch der kulturkritische Blick der Psychoanalyse verstärkt auf den Körper gerichtet. Zu auffällig erscheint er uns mit seinen Tätowierungen, seinen Durchlöcherungen und Verzierungen im Straßenbild, zu schreiend tritt er uns mit seinen Umwandlungen, Verstümmelungen und Beschädigungen in den Praxiszimmern entgegen, als dass er uns, hier wie dort, gleichgültig lassen könnte. Jenseits dieser uns als Übertreibung und Überfluss erscheinenden aktuellen Körperkultur stellt jedoch das Körperliche und Leibliche mit seinen Beschäftigungen und Bearbeitungen grundsätzliche Konstituenten aller kulturellen und künstlerischen Diskurse und Dispositive dar.

Da der Körper und seine Teile unsere Ur-Objekte darstellen, welche den weiteren Bezug zur Welt entscheidend vorstrukturieren, ist auch jedes Qualitätsurteil ursprünglich mit dem Körper verbunden: zunächst undifferenziert als Lust/Unlust empfunden, dann als gut oder böse erlebt, schließlich, zusammen mit anderen höheren Wertungen unter dem Vorzeichen der Idealbildung in die ästhetischen Kategorien (z. B. schön und hässlich, vollkommen und mangelhaft) gefasst. Es hieße die Kunstgeschichte ausschreiben, wenn es nur darum ginge, die enge Verbindung von Ästhetik und Körper zu betonen. Hatte die Leiblichkeit in der Darstellenden Kunst ihr ästhetisches Dispositiv gefunden, stellten Zeichnung, Malerei und Plastik schon immer ein zähes Ringen um die treffende Abbildung und um die ideale Reduplikation des Körpers dar. Damit aber der Körper, seine Teile und seine Absonderungen selbst zu Gegenständen der Bildenden Kunst werden konnten, mussten mindestens zwei Voraussetzungen gegeben sein: eine entsprechende Körperkultur und ein Paradigmenwechsel sowohl des Kunstbegriffs als auch des Kunstgegenstandes. In der Tat kommt es in der Moderne zu einer Konvergenz der beiden Strömungen, die sich nachhaltig auf die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts ausgewirkt hat.

Man hat in den letzten Jahrzehnten viel von der Rückkehr des Körpers gesprochen und damit unter anderem die (philosophische) Seele zugunsten der (wissenschaftlichen) Psyche verabschiedet und die Wiederkehr des durch die Flut der Bilder, Zeichen und Symbole verdrängten (realen) Referenten gefeiert. Die Allgegenwart des Körpers und der Körper als Gegenstand des Heils, Topos aller namhaften Kulturtheoretiker der frühen Achtzigerjahre, allen voran Jean Baudrillard, haben sowohl die Alltagskultur als auch den Bereich der Hochkultur gleichermaßen ausgestaltet. Insbesondere in der bildenden Kunst nehmen seither der Körper, weniger in seinen Darstellungen als vielmehr in seinen Bearbeitungen (gewissermaßen als “Kunst am Körperbau”) eine beinahe schon aufdringliche Weiträumigkeit in Anspruch, was nicht zuletzt auf die atemberaubende Entwicklung der Medizin, der Gentechnologie, aber auch der Kybernetik, der Elektronik und der Computertechnik zurückzuführen ist, deren Arbeit an der Vollendung von Künstlichkeit ein der Kunst willkommenes Dopingmittel zu liefern imstande ist.

So gibt es vor allem seit den 1990er Jahren eine Unzahl von Ausstellungen, die explizit oder implizit um dieses Thema herum organisiert sind, nur wenige Veranstaltungen, die sich mit kultur- und kunsttheoretischen Fragen beschäftigen, können sich der Präponderanz des Körperlichen entziehen und für die diversen Kunstzeitschriften ist der Körper in realer oder virtueller Erscheinungsform ein Topos ersten Ranges. So widmete etwa das “Kunstforum” 1996 zwei Nummern (Bd. 132 und 133) der “Zukunft des Körpers”, um auf beinahe tausend Seiten die Vorherrschaft echten und falschen Fleisches und das Zurückweichen von Wort und Bedeutung zu zeigen und zu beschreiben. Einen der Höhepunkte in dieser Entwicklung stellt die französische Künstlerin Orlan dar, die in ihrem seit 1978 laufenden Projekt “I have given my body to art” sowohl blasphemisch als auch rebellisch mit der unwiderruflichen Veränderung ihrer körperlichen und sozialen Identität spielt. Mit ihrem Körper will sie nicht nur gegen Gott und die DNS ankämpfen, um nicht einer “willkürlichen Gen-Lotterie” unterworfen zu sein, sondern sie will sich auch gegen die Diktate einer herrschenden Schönheitsideologie bezüglich des weiblichen Körpers auflehnen, welche in der Schönheitschirurgie, wo die Macht des Mannes über die Frau am stärksten zum Ausdruck komme, in drastischer Weise ausgeübt werde. Gerade aber mit den Mitteln der Schönheitschirurgie wird dieses Programm realisiert, indem die Künstlerin und Kunsttheoretikerin seit 1990 ihr Gesicht und ihren Körper durch laufende Performance-Operationen verändern lässt. Dabei werden computergenerierte Bilder verwendet, die, aus Teilen berühmter Gemälde stammend, den Chirurgen als Vorlage dienen sollen. Darüber hinaus werden Implantate eingesetzt, die nicht nur vorhandene Körperpartien verändern, sondern auch neue Organe andeuten, um auf diese Weise einer Perfektion von Selbsterschaffung nahe zu kommen.

Wer historisch diesem neuen, bisweilen an Körperbesessenheit grenzenden Körperkult, nachgeht, wird seine Wurzeln allerdings schon mehr als hundert Jahre früher aufspüren können. Dabei scheint es sich weniger um eine mentalitätsgeschichtliche Evolution, sondern vielmehr um eine technik- und mediengeschichtliche Entwicklung zu handeln. Einsetzend mit der erst im 19. Jahrhundert erfolgten Einführung des großflächigen, eine Ganzkörperbetrachtung erlaubenden Spiegels, begleitet von der Entwicklung der Photographie und der Verwendung der Körperwaage, soll es, wie es uns Kulturtheoretiker nahe legen, zu einem neuen Körperbewusstsein gekommen sein, das vor allem in unserem Jahrhundert durch einen universalen Einsatz neuer Medien zur Herausbildung eines globalen und virtuellen Schönheitsideals geführt habe. Offensichtlich in Zusammenhang mit den dadurch auch geförderten Sozialisationsstrukturen im Sinne normativer Fixierungen narzißtischer Persönlichkeitszüge fördert diese Körpermentalität die Arbeit am hauptsächlich imaginären Ideal-Ich gegenüber einer verminderten Beschäftigung mit dem symbolisch-sprachlich verfaßten Ich-Ideal.

Gerade angesichts einer akzentuierten Körperkultur, welche hauptsächlich seit den 80er Jahren feststellbar ist, ist der Frage nachzugehen, was uns Menschen bewegt, unseren Körper jenseits bedürfnisorientierter Zweckmäßigkeit permanent zu bearbeiten und zu manipulieren, auf jeden Fall ihn nicht so hinzunehmen, wie er uns gegeben ist. So eröffnet sich jenseits der Körperpflege ein weites Feld von Versuchen, den Körper zu verändern und zu verwandeln: ihn aufzublähen oder zu reduzieren, ihm etwas hinzuzufügen, aber auch ihm etwas zuzufügen und ihn zu malträtieren, von ihm etwas zu entfernen, auf ihn etwas aufzutragen, in ihn etwas einzuschreiben und einzuzeichnen, ihn einzuschneiden, zu durchbohren und vieles anderes mehr. Dabei werden wir abgesehen von anthropologischen, soziologischen und insbesondere kultursoziologischen Implikationen auch auf jene privaten Bereiche stoßen, in welchen eine Psychoanalyse der Körperbearbeitungen auch klinisch relevant wird, weil es um Ausdrucksformen einer psychischen Struktur geht, welchen sehr rasch eine pathologische Konnotation anhaftet: Bildungen der perversen Struktur mit ihrem bisweilen hartnäckig verfolgten und verzweifeltem Bemühen, das durch die Wirkung der Sprache bedingte unmögliche Genießen des Körpers zu erreichen und die Dimension des Genießens im Realen um den Preis der Selbstaufgabe zu erobern. Dieses Streben wächst allem Anschein nach auf dem Boden einer anthropologischen Gegebenheit, welche auch eine Antwort auf die Frage liefert, was gerade den menschlichen Körper zum prototypischen Träger von Be-Zeichnung prädestiniert.

Die Foetalisationshypothese des Embryologen Bolk erachtet den Menschen als konstitutionell unreifes Wesen. So werden etwa die Haarlosigkeit oder die Schädelwölbung mit untergesetztem Gebiss als Zeichen fixierter Fötalzustände angesehen, was dem menschlichen Neugeborenen mit den Worten des Biologen Portmann den Status einer Frühgeburt zuweist. Eine Folge dieser Frühzeitigkeit sei demnach eine ungenügende Ausstattung, ein Mangel an Instinkten und damit auch ein ursprünglich und grundsätzlich gestörtes Verhältnis des Menschen zur Natur. Ohnmächtig und hilflos ist das Menschenkind nicht nur auf die Pflege und Fürsorge, sondern auch auf die Liebe der Eltern, der “Nebenmenschen” angewiesen und ist damit von Anfang an einer kulturellen Ordnung, einer symbolischen Ordnung unterworfen, unter deren Gegebenheiten sich auch sein Ich als Produkt eines Intersubjektivitätsprozesses herausbildet. Alle Lebensäußerungen des Menschen, auch die Reifungs- und Entwicklungsprozesse des Körpers können nicht außerhalb dieses kulturellen Zusammenhangs gedacht werden; von Anfang an ist Ergänzung der Natur durch Kultur notwendig, freilich supplementär und nicht komplementär, eine Verbindung des Natürlichen mit kultureller Zusätzlichkeit, die nie zu einem vollständigen Ganzen führt. Deshalb ist auch der Körper nie ganz, was ihn aber nicht daran hindert, sich ständig ergänzen zu wollen in seinem Trachten nach Vollkommenheit. In Anbetracht eines notwendigen Misslingens, das nicht hingenommen werden will, kann es aber auch zur Umkehrung kommen, was sich in Verstümmelung, Vernichtung und Zerstörung des Körpers ausdrückt.

Wenn wir uns in diesem Zusammenhang jenen körperästhetischen und körpertechnischen Alltagspraktiken, welche dauerhafte Veränderungen am Körper bewirken – wie etwa Tätowierungen, Piercings oder diverse chirurgische Manipulationen – so stellt man fest, dass Meinungen über Wert und Unwert solcher Eingriffe nach wie vor geteilt sind und man erinnert sich, dass mit dem Aufkommen dieser als Mode erschienenen Praktiken aus der Distanz zum Phänomen einander Apokalyptiker und Integrationisten gegenüberstanden. Darin spiegelte sich aber letztlich nur eine uralte Ambivalenz gegenüber solchen Körperkulturerscheinungen wider. Denn die ersten schriftlichen Belege zur Sitte des Einschneidens und des Einritzens sind im Pentateuch, den fünf Büchern Moses, als Verbote formuliert, womit sie nicht nur die weite Verbreitung dieser Sitte dokumentieren, sondern auch deren Bezogenheit auf kulturelle Normen und Kodizes markieren: “Für einen Toten dürft ihr keine Einschnitte auf eurem Körper anbringen, und ihr dürft euch keine Zeichen einritzen.” (Moses, Levitikus) Auf der anderen Seite ist auch das Unterlassen von Körperverzierungen verpönt, was sich besonders dort äußert, wo Körperschmuck zur gesellschaftlichen Norm erhoben wird: “Ein Mann ohne Narbenschmuck gleicht einem Schwein oder Schimpansen”, so der Spruch der Bafia aus Kamerun. Oder ein anderer Spruch der Caduveo-Indianer: “Ein unbemalter Körper ist ein blöder Körper.”

Soziologisch gesehen entsprechen moralisierende Entwertungen oder auch unterschwellige Abwertungstendenzen einerseits und die kulturelle Förderung von Körpermanipulationen und Hautzeichnungen bis hin zu bestimmten Formen der Körperkunst andererseits den gesellschaftlichen Funktionen, welchen solche signifikante Einschreibungen zukommen: so zum einen ein selbstbestimmtes Streben nach Identitätsstiftung und Identitätsstärkung, zum anderen und dazu gegensätzlich die fremdbestimmte Ausgrenzung und Diffamierung.

Gerade das, was von Skeptikern der Tätowierung als Begründung ihrer Abneigung vorgebracht wird, nämlich dass solche Körperverzierungen dauerhaft sind und daß man sich somit ihrer nicht mehr entledigen könne, wird von den die Tätowierung Praktizierenden als Motiv ihrer Passion ins Treffen geführt. Als Symbol für die Suche des Menschen nach einer Identität in einer Gesellschaft, die alle uniformieren will preisen auch populäre Zeitschriften das Hautbild an und fördern paradox seinen Massenkonsum unter dem Zeichen einer bewussten Auseinandersetzung mit herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen, indem der Massenproduktion, der Vergänglichkeit und der Unsicherheit Dauerhaftigkeit und Individualität entgegengesetzt werden. Hinter dieser Gesellschaftskritik ist allerdings nicht schwer ein Konformismus mit einem Zeitgeist auszumachen, der von der Widersprüchlichkeit einer postindustriellen Konsumgesellschaft geprägt ist. Dabei wird die Einzigartigkeit des Individuums zur kollektiven Norm und zur Massenidentität, wobei gerade die Körperzeichen den Subjekten den Stempel eines vergesellschafteten Individualismus aufdrückt und es gleichzeitig vor Identitätsverlust und vor einem Verschwinden in eine postmoderne Beliebigkeit schützt. Damit zeigt sich in einer Epoche, die durch labile und flexible Identitäten, durch unbestimmte und sich stets verändernde soziale Rollen und durch soziale Unsicherheit infolge Auflösung politischer gegenüber ökonomischer Strukturen gekennzeichnet ist, jene Funktion der Hautmarkierung besonders deutlich, die ihr immer schon ursprünglich war: Hautmarken zeigen stets die Instanz der Kultur, des gesellschaftlichen Erkennens und der kulturellen Ordnung an und kennzeichnen somit den subtilen Eintrag des Gesetzes auf dem Körper des Individuums. Mit und durch den Körper wird das stellvertretende und sinnverschiebende Spiel der die menschliche Kultur konstituierenden symbolischen Ordnung in Szene gesetzt. Insofern könnte man die Zeichnung des Körpers mit einer Münzprägung vergleichen, die das Metall in Umlauf bringt und es im Kurs hält.

Es muss angesichts der hier zur Verfügung stehenden Zeit darauf verzichtet werden, eine Kultur- und Sozialgeschichte einschließlich psychoanalytisch relevanter Faktoren im Hinblick auf Hautmarkierungen nachzuzeichnen, wobei Körperzeichnungen als Zeichen der Ausgrenzung und Diffamierung keine geringe Rolle spielen und wobei sich auch die erotische Bedeutung dieser Körpermanipulationen zeigen würde. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass hier deutlich wird, was Lacan in Bezug auf Körperverzierung und Tätowierung als die Inkarnation der Libido als eines irrationalen Organs bezeichnet: in Anlehnung an Freuds Behauptung, dass die Libido männlich sei, schlägt Lacan vor, die Libido als reinen Lebenstrieb nicht als ein Kräftefeld, sondern als ein irreales Organ zu betrachten. Dazu heißt es bei ihm: “Die Libido ist also das Organ, das für das Verständnis der Natur des Triebes unverzichtbar ist. Dieses Organ ist irreal. Es ist irreal, aber keineswegs imaginär. Irreal heißt per definitionem nur, dass hier eine Art Verbindung mit dem Realen besteht, die wir nicht fassen können, womit die Notwendigkeit einer mythischen Darstellung gegeben ist… Die Tatsache, dass es irreal ist, hindert aber das Organ nicht, sich zu inkarnieren. Ich gebe ihnen sofort das materielle Beispiel dafür: Eine der ältesten Formen der Inkarnation eines irrealen Organs ist die Tätowierung, das Einritzen der Haut. Dieses Einschneiden ist im eigentlichen Sinn für das Andere. Es situiert das Subjekt, markiert den Ort, der diesem Verhältnis zum Einzelnen wie im Verhältnis zur Gemeinschaft zukommt. Gleichzeitig wird damit ganz offensichtlich eine erotische Funktion erfüllt, die jeder kennt, der mit ihrer Realität in Berührung kam”.
Eines der eindrucksvollsten Beispiele, welche diese Behauptung zu stützen vermögen, ist Takabayashi’s Film “Irezumi – die tätowierte Frau” (Japan 1981). Eingebettet in verschiedene Erzählstränge, geht es hier vor allem darum, dass sich eine junge Frau auf Wunsch ihres zukünftigen Ehemannes von einem alten Meister tätowieren lässt und dabei zu einem neuen Körper- und Selbstbewusstsein gelangt. Dafür ist die besondere Praxis des Künstlers nicht ohne wesentliche Bedeutung. Seine einzigartige und zu seinem Ruhm beitragende Methode beruht nämlich in einer Tätowierung auf dem Prinzip der Vereinigung von Lust und Schmerz, weshalb er seine ganze Kunst nur dadurch entfalten kann, dass die Frau während des Hautstichs in den Armen eines Mannes liegt und die Liebe empfängt. So sehen wir musterbeispielhaft in der Tätowierung einen Versuch, die Unmöglichkeit des Genießens des Körpers für den Menschen zu überwinden, womit wir uns in einer weiteren Auseinandersetzung dem Phänomen des Fetisch nähern und auf das Feld der Struktur der Perversion übertreten würden.

Die Absonderungen des Körpers in der bildenden Kunst

“Würde ein Vogel, der malte, nicht einfach seine Federn lassen, eine Schlange ihre Schuppen, würde ein Baum sich nicht einfach seiner Blätter entledigen, die zu Boden regneten?”
Mit dieser Überlegung versucht Lacan, die Ursprünge der Malerei aufzuspüren. Was dabei der Maler durch seinen Pinselstrich im Bild niederlege, wäre der Blick, wodurch eine Art von Blickzähmung erfolge. Denn als primäres Objekt des Schautriebes sei der (vom Anderen ausgehende) Blick grundsätzlich böse und gefräßig und müsse erst befriedet werden, um als Vermittler eines Begehrens fungieren zu können. Dieser im Bild deponierte aber als solcher nicht sichtbare Blick stelle schließlich das Faszinosum dar, von dem der Betrachter in seinem Unbewussten in Bann gezogen würde.

Bei dieser Perspektive wird aber vernachlässigt, dass sich – erstens – künstlerisches Schaffen im allgemeinen nicht auf die Sublimierungsarbeit an nur einer Triebmodalität reduzieren lässt, sondern dass es zumeist zu Verschränkungen mehrerer Partialtriebe kommt. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass Kreativität, sofern wir Freuds nützlicher Differenzierung folgen, sowohl Arbeit am Trieb als auch am Objekt beinhaltet. Umgestaltungen des Triebgeschehens wären dann unter den Begriff der Sublimierung zu stellen, während man Umformungen des Objekts als Idealiserung bezeichnen könne.

Im Falle der Malerei hieße dies sowohl für den Akt des Malens als auch für den Genus des Betrachtens, neben dem Schautrieb zumindest auch die Analerotik in Rechnung zu stellen, wobei die beiden Strebungen sich gegenseitig stützen. Denn einerseits geht es hier vor allem darum, Farben und Flecken auf plane Flächen – vorzugsweise übrigens Leinwandflächen – aufzutragen, weshalb der Malerei immer der Geruch des Exkrementellen anhaftet; malen heißt demnach auch Wischspuren eines archaischen Erlebens setzen, welche stets die unbewusste Erinnerung an ein mit der Ausstoßung körpereigener Substanzen verbundenes Lust- und Verlusterleben wecken. In einem erweiterten Sinn wird damit eine Entäußerung und ein Auftragen des eigenen Körpers auf eine Oberfläche, eine Projektion des Körpers als Oberfläche und eine Projektion des Ich als Haut-Ich vollzogen. Andererseits ist der Voyeurismus als Grundlage sublimierter Schaulust zunächst nicht nur auf den Sexualakt, sondern auch auf den Defäkationsakt, welcher zumeist einem noch größeren Tabu unterworfen ist, gerichtet. Hier ist nicht zuletzt der Lust zu gedenken, welche dem Exkrement auch bezüglich seiner Geruchsdimension entgegengebracht wird, bevor sie durch Reaktionsbildung in die abstoßenden Gefühle von Ekel und Abscheu verwandelt wird.

Es bedurfte allerdings der grenzenlos scheinenden Erweiterung des Kunstbegriffs, wie er für das zwanzigste Jahrhundert bezeichnend ist, bevor auch derartige menschliche Tätigkeiten und Produkte wie die Defäkation und das Exkrement Eingang in die zumindest teilweise sozial anerkannte künstlerische Kreativität Eingang finden konnten. Zuvor waren derartige “Werke” allenfalls in jenen Schöpfungen von Geisteskranken anzutreffen, welche später unter den Begriffen der “art brut” oder der “Zustandsgebundenen Kunst” in die Kunstgeschichte aufgenommen wurden. So verfertigte etwa der Schweizer Heinrich Anton Müller während seines Aufenthalts in einer psychiatrischen Anstalt zwischen 1914 und 1920 zahlreiche Maschinen und fahrbare Gestelle, die aus Abfällen wie Lumpen, Draht und Ästen und unter Verwendung seiner Sekrete, Exkrete und Exkremente zusammengebastelt waren.

Hatte durch den Neurologen (und Kunsttheoretiker) Charcot am Ende des 19. Jahrhunderts eine Invasion des Pathologischen in der Kunst eingesetzt, so lag es natürlich an Erscheinungen wie Jean Dubuffet oder auch Marcel Duchamp, die Stoßrichtungen zu bestimmen und sie theoretisch und künstlerisch zu untermauern, so dass es möglich wurde, mit einer in der Tat verrückten Prä-Avantgarde eine Schneise in einen kanonisierten Kunstbetrieb zu schlagen und mehrere Künstlergenerationen dazu zu inspirieren, die Verschmelzung von Kunst und Leben zu einem ihrer Programme zu erheben. Gestützt durch eine Umwälzung gesellschaftlicher und ökonomischer Verhältnisse in Richtung Liberalismus und Kapitalismus konnten einerseits selbst die alltäglichsten Verrichtungen und die banalsten Gegenstände zu Akten und Objekten der Kunst deklariert werden, andererseits bildete sich eine neue Künstlerfigur heraus, die, gestärkt durch Selbstbewusstheit und Selbstautorisierung sich letztlich auch selbst, insbesondere mit seinem Körper zum Kunstwerk erklären konnte.

Das heilige Exkrement. Österreichische Kunst nach 1945

Man sagt, dass die klassische griechische Kultur eher den Trieb geheiligt habe, während die spätere abendländische Kultur eher Idealisierungsarbeit am Objekt leiste. Diesen beiden Kategorien sind Kunstschöpfungen korreliert, welche sich einerseits vornehmlich am Sinnlichen, andererseits hauptsächlich am Intellekt orientieren. Innerhalb einer durch die Koordinaten der Niederung und des Erhabenen bestimmten Topologie und unter den Begriffen des Dionysischen und des Apollinischen stehen so die Unmittelbarkeiten von Akt, Aktion, Leidenschaft, Tanz, Musik, Abreaktion, Ritual usw. den Äußerungen von Ratio, Sprache, Schrift, Mythos, Technik etc. gegenüber.

Es sieht so aus, als hätte sich das vorwiegend von Musik geprägte musische Österreich (in einer kitschig -pathetischen Metaphorik: Grillparzers sensibler Jüngling zwischen dem Manne Deutschland und dem Kind Italien) und insbesondere sein Wiener Konzentrat immer schon mehr dem Sinnlichen zugeneigt, freilich zumeist in Form einer eher gemäßigten, romantizistischen, behäbigen bis gemütlichen Gefühlskunst, die bisweilen von skandalisierenden Aufwallungen und innovativen Schüben durchbrochen wurde. Eine Radikalisierung trat allerdings nach 1945 ein, nachdem mit der Herrschaft des Nationalsozialismus nicht nur wertvolles künstlerisches Potential, sondern auch die nicht unbeträchtlichen intellektuellen Kräfte zum größten Teil zerstört oder vertrieben worden waren. Angesichts dieser prekären Situation, angesichts der Traditionsbrüche und des kulturellen Vakuums emotionalisierte sich vor allem die langsam wieder entstandene Wiener Kunstszene, deren Vertreter die letzten Reste einer letztlich nur in die Katastrophe führenden Un-Kultur zu beseitigen trachteten. So war die Antwort auf die Schuld der Väter die Wut der Söhne, deren Aggressivität sich zum Teil in künstlerischen Aktionen entlud, die, zum Wiener Aktionismus verdichtet, schließlich zum Markenzeichen einer ganzen Epoche wurden.

Sicherlich, die aus jedem Rahmen gefallene Kunst, welche sich weigerte, dekorativen Zwecken zu dienen und “Kunstwerke” zu produzieren, welche vielmehr Kunst als Tat, als Prozess oder sogar als gesellschaftsverändernde Kraft definiert haben wollte, also jene Bewegungen, die Begriffe wie Happening oder Action Painting geprägt haben, haben ihren Ursprung weder in Österreich, noch in Wien. Aber ihre Ideen sind hier auf fruchtbaren Boden gefallen und sind auch in mancher Hinsicht radikal und konsequent weiterentwickelt worden. War die Kunst des Wiener Fin-de-Siècle, mit Freud als Leitfigur, bereits in die Niederungen des Trieblebens hinabgestiegen und hatte sie vor allem auf dem Feld der Erotik ihre Tabubrüche begangen, so war nun der Wiener Aktionismus bereit, noch tiefer hinunterzugreifen. Dabei ging es ihm weniger darum, den reinen, sinnlichen und drängenden Trieb in seinen diversen Modalitäten und Lokalisierungen orgiastisch-rituell zu beschwören, den an Sexualität und Gewalt gebundenen Lustgewinn diesseits jedes symbolisierten Begehrens zu propagieren und das Freudsche “Es” als Kessel brodelnder Leidenschaften vorzuführen (und es schon gar nicht mit einer herkömmlichen Ästhetisierung und Sublimierung salonfähig zu machen), wozu es erst später kommen sollte), sondern, wie es exemplarisch in den “Materialaktionen” zum Ausdruck kam, auf jede traditionelle Herrschaft über Ästhetik und Moral zu kotzen, zu scheißen und zu pissen, gängige Kunstnormen zu beschmutzen und zu besudeln und die gebräuchlichen künstlerischen Mittel aus ihren gewohnten inhaltlichen und formalen Zwängen herauszureißen. Diese neue Kunst war für Otto Mühl eine “über die bildfläche hinausgewachsene malerei. der menschliche körper, ein gedeckter tisch, auf dem sich das materialgeschehen ereignet, oder ein raum wird zur ‚bildfläche‘. Die materialaktion vereinigt in sich alle elemente aller kunstgattungen, malerei, musik, film, literatur, theater, die durch den fortschreitenden verblödungsprozeß unserer gesellschaft so verseucht sind, daß eine auseinandersetzung mit der wirklichkeit innerhalb dieser kunstformen unmöglich geworden ist.”

Mit zunehmender Politisierung der Gruppe der Aktionisten, die immer deutlicher zu einer Kraft der Studentenbewegung 1968 wurde, von deren Aktivitäten sich aber offizielle Studentenorganisationen zumeist distanzierten, richteten sich die Angriffe immer stärker gegen den österreichischen Staat, der, wie Günter Brus es einmal formulierte, aus seinem Mief herausgeholt werden sollte. Der zur Debatte stehende Gestank wurde schließlich drastisch und konkretisiert zur Erscheinung gebracht, als an einem der Höhepunkte der Bewegung sich jenes Happening in einem Hörsaal der Universität Wien abspielte, das mit Defäkationsakten nicht sparsam umging und deshalb als “Uniferkelei” in die Zeitgeschichte, in die Kunstgeschichte, in die Geschichte der Wiener Universität und in die österreichische Justizgeschichte einging. Diese Aktion war streng genommen Österreichs Hauptbeitrag zur internationalen 68er-Revolte, deren Aussagen, Willensbildungen und Meinungen gegenüber den herrschenden politischen und gesellschaftlichen Strukturen vielleicht nirgendwo sonst so klar und deutlich auf den Punkt gebracht wurde, so dass der künstlerisch-ästhetische Diskurs, aus der sie hervorgegangen war, sekundäre Bedeutung erlangte. Daher konnte 1980 in einer damals beliebten Fernsehdiskussion der Moderator behaupten: “Aktionismus ist ein Nebengebiet der Bildenden Kunst. Er ist vor allem eine Sache von Polizei und Gerichten geworden.”

Erst spätere Wissensdiskurse kunstgeschichtlicher und kunsttheoretischer Ausrichtung konnten den aus einem Aufschrei einer zornig-kritischen jungen Generation stammenden Akt so weit sublimieren und intellektuell einfangen, dass in einer allgemeinen Erkenntnisleistung ein stets vorhandenes unbewusstes gesellschaftliches Begehren, das dem kulturell notwenigen Triebverzicht entspringt, bewusstseinsfähig werden konnte: das Begehren eines sexuierten Körpers, männlich wie weiblich, genießen zu können und in seinen realen Dimensionen und in seiner fleischlichen und blutigen Unmittelbarkeit bis hin zu seinen verabscheuten und verdrängten Exkrementen diesseits seiner intellektualisierten und symbolisierten Abstraktion anerkannt zu werden.

Da es aber den Frauen im politisch-ästhetischen Zusammenhang des Wiener Aktionismus kaum möglich war, außer einem Objekt- und allenfalls einem Partnerstatus eigenständige und tragende Positionen einzunehmen und da sich in der weiteren Folge um Otto Mühl herum ein neues Patriarchat entwickelte, das gewisse Züge einer Urhorde trug, konnte die Entwicklung einer feministischen Aktionskunst nicht ausbleiben. Als deren Protagonstin trat Anfang der Siebzigerjahre Valie Export an, um in multimedialen Veröffentlichungen den weiblichen Körper vor allem als ein malträtiertes und von den männlichen Begierden mißbrauchtes Objekt schamlos zur Schau zu stellen. Ein solches Programm, erweitert durch neue Selbstfindungsstrategien zur Bestimmung von Weiblichkeit und weitergetragen mit anderen Künstlerinnen unter Slogans wie “Kunst mit Eigensinn” konnte überleiten zur Ausformung eines weiblichen Narzissmus in der Kunst, als deren bedeutendste gegenwärtige Wiener Vertreterin sicherlich Elke Krystufek gelten darf. Möglicherweise haben die Wiener Aktionisten in analoger Weise das Terrain für eine Künstlerfigur wie Cornelius Kolig vorbereitet, der zwar Eigenständigkeit für sich beanspruchen darf und der es auch vorzieht, seinen mühsamen und schwierigen Weg einsam und allein zu gehen, der aber hinsichtlich seiner nicht wenige Tabus brechenden Arbeiten von einer Desensibilisierung profitieren dürfte, die nicht ohne Bezug zu den zornigen Wienern der Sechziger- und Siebzigerjahre ist.

Wenn auch der in Kärnten lebende Künstler kürzlich mit der Neugestaltung des von seinem Vater vor dem Dritten Reich geschaffenen Kolig-Saals im Kärntner Landtag jene politischen Kreise seiner ‚Heimat’ erregt, verstört, und empört hat, die – bewusst oder unbewusst – einen offensichtlich zu innigen Bezug zu den so genannten niedrigen Instinkten haben, so dass sie jede öffentliche und künstlerische Auseinandersetzung damit zumeist unter Verwendung des Schlagwortes “Fäkalkunst” massiv abwehren müssen, so hat er doch anlässlich einer großen Ausstellung im Palais Liechtenstein des Wiener Museum des 20. Jahrhunderts 1985 mit seinen Skulpturen, Objekten und Installationen eine mutige, konsequente, im besten Sinn rücksichtslose und analytisch potente Arbeit zur Diskussion stellen können, ohne einen Skandal hervorzurufen. Gerade im Zusammenhang mit dieser Ausstellung wies Dieter Ronte, damaliger Direktor des Museums, auf eine bereits zur Tradition gewordenen Entwicklung österreichischer Kunst hin, welcher – international gesehen – Originalität nicht abzusprechen sei: “Mit seinen Objekten und Zeichnungen baut Cornelius Kolig Spannungsfelder auf, in denen gesellschaftliche Normen nicht mehr greifen. Kolig fordert von sich und den Betrachtern Unvoreingenommenheit, Aufhebung von tabuierten Phänomenen, um unsere Existenz positiv zu durchleuchten. Damit erweist er sich als ein Glied in einer langen Kette der österreichischen Ästhetik, als Mitstreiter jener Künstler, die besonders seit den sechziger Jahren begonnen haben, Kunst nicht als schönen Schein zu verstehen, sondern als notwendige existentielle Erfahrung. Soweit ich es sehe, hat hier Österreich im internationalen Vergleich eine einmalige, von keinem anderen Land erreichte Position inne”.

Wenn hier gerade dieser Künstler hervorgehoben wird, so deshalb, weil er besonders systematisch und akribisch jenen eingangs erwähnten (und mitunter auch als Abjekte bezeichneten) Ur-Objekten nachgeht und sie ästhetisch zu fassen versucht, welche ablösbare Teile des menschlichen Körpers darstellen und damit an der Konstituierung der Logik des Teils und des Ganzen, d. h. auch an der Konstituierung sowohl von Objekt als auch Subjekt beteiligt sind. An Koligs Arbeiten, die hauptsächlich an den Objekten Brust, Kot und Blick orientiert sind, erlangt auch Lacans Sublimierungsdefinition, welche Freuds Sublimierungs- und Idealisierungsbegriff miteinander verbindet, besondere Sinnfälligkeit: Sublimierung ist die Erhöhung des Objekts zur Würde des Dings.
Koligs Artefakte, die einem klinisch-chemisch-technisch sauberen Raum entnommen sind, stellen hauptsächlich Geräte dar, welche Handlungsabläufe und Tätigkeiten zelebrierend nachvollziehen, die genauso alltäglich und banal wie tabuisiert sind. Insbesondere sein Umgang mit menschlichem Kot, der bisweilen unter Führung eines “proktologischen Tagebuchs” mit Vorrichtungen wie “Kotstreckern” oder “Klistierbändern” weiterverarbeitet und zu “Kotkränzen”, “Kotlingen” etc. veredelt wird, kommt auf äußerst raffinierte und elegante Weise dem uralten Begehren nahe, aus Scheiße Gold zu machen.

Literatur beim Verfasser

August Ruhs, Univ.-Prof., Dr.med., Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Psychoanalytiker (IPV). Vorsitzender des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse. Stellvertretender Vorstand der Wiener Univ.-Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie. Mitbegründer und Vorsitzender der “Neuen Wiener Gruppe/Lacan-Schule”, Mitherausgeber der Zeitschrift “texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik”. Zahlreiche Publikationen aus dem Bereich der klinischen, theoretischen und angewandten Psychoanalyse.