Über welche Grenze – wohin? Nitsch vs. Export
Mit dem Untertitel dieses Symposiums „Wiener Avantgarden nach 1945“ haben die VeranstalterInnen eine weitreichende Entscheidung getroffen, indem sie sehr heterogene KünstlerInnen und Kunstströmungen unter dem Begriff „Avantgarde“ zusammengefasst haben. Dieser Begriff ist ja keineswegs „unschuldig“, er enthält eine Reihe von Implikationen und Setzungen, und es gibt eine mittlerweile Jahrzehnte andauernde Debatte darüber, wie er eigentlich zu definieren ist, ob Avantgarden nurmehr ein historisches Phänomen sind oder auch heute noch existieren und so weiter. Eine weitere Setzung haben die VeranstalterInnen vollzogen, indem sie diese Sektion dem Thema der „Grenzüberschreitungen“ gewidmet haben. Das Verletzen und Überschreiten von Grenzen spielt im Kontext des Avantgardebegriffs eine zentrale Rolle, ja es scheint das Kriterium für Avantgardismus überhaupt zu sein. Allerdings ist es ein sehr ungenauer Begriff, der kaum je hinterfragt und konkretisiert wird. Um welche Grenzen geht es überhaupt? Welche Gebiete trennen sie voneinander ab? In welche Richtung, mit welchem Ziel werden sie überschritten?
Der Begriff „Avantgarde“ ist von seinem Ursprung her bekanntlich ein militärischer Terminus: die Avantgarde einer Armee hat die Aufgabe, als erste hinter die feindliche Linie zu gelangen. Insofern ist die Grenzüberschreitung dem Avantgardebegriff von Beginn an eingeschrieben. Im frühen 19. Jahrhundert ist dieser Begriff durch Henri de Saint-Simon metaphorisch auf die Rolle des Künstlers übertragen worden. Damit eignet dem Begriff der künstlerischen Avantgarde immer schon ein aggressiver, kämpferischer und fortschrittsbezogener Charakter. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat es dann sehr verschiedene definitorische Ansätze zum Begriff der Avantgardekunst gegeben: Auf der einen Seite standen formalästhetische Positionen wie Clement Greenberg und Renato Poggioli, die unter „Avantgarde“ primär die formale künstlerische Innovation verstanden. Im Zuge der Studentenbewegung setzte sich dagegen eine stärker politisierte Sicht durch, repräsentiert durch Peter Bürger, dessen „Theorie der Avantgarde“ von 1974 bis heute dominierend geblieben ist, und sei es auch als Reibepunkt. Bürger, der seinen Avantgardebegriff vor allem am Surrealismus gewonnen hat, bestimmt die „Liquidierung der Kunst als einer von der Lebenspraxis abgespaltenen Tätigkeit“ und die „Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis“ als das zentrale Anliegen der Avantgarden. Er meint damit die Überwindung der dichotomen Abgrenzung der Kunst als einer autonomen Sphäre jenseits gesellschaftlicher, politischer und alltäglicher Lebensrealität. Die Avantgardebewegungen am Beginn des 20. Jahrhundert leisteten seiner Auffassung nach eine „Selbstkritik der Kunst“ mit dem Ziel, diese Grenze zwischen Kunst und Leben in einer erweiterten künstlerischen Praxis aufzuheben.
Zweifellos war Peter Bürger, als er seine Theorie der Avantgarde niederschrieb, nicht unbeeinflusst von den neoavantgardistischen Bewegungen der 60er und 70er Jahre. Er selbst sieht allerdings das Projekt Avantgarde als ein rein historisches an, folglich hat er die Neo-Avantgarden als epigonale Neuaufgüsse der frühen Avantgarden (Futurismus, Dada, Surrealismus) in Bausch und Bogen abgetan – ein Verdikt, dem Benjamin Buchloh und Hal Foster mit guten Argumenten widersprochen haben. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist aber, dass Bürger, wenngleich er in seinem Buch das Wort „Grenze“ nicht direkt verwendet, den Anstoß dafür gab, die Grenzüberschreitung von der Kunst ins Leben als zentrales Merkmal künstlerischer Avantgardebestrebungen anzusehen.
Im Folgenden möchte ich den Begriff der „Grenzüberschreitung“ exemplarisch an zwei prominenten
VertreterInnen aktionistischer Praxis der 60er und 70er Jahre in Wien diskutieren: Hermann Nitsch und VALIE EXPORT. Diese stehen für durchaus differente Positionen mit jeweils sehr spezifischen Zielen, künstlerischen Verfahren und theoretischen Fundierungen. Doch haben sie auch eine wichtige Gemeinsamkeit, und das ist eben die Figur der Grenzüberschreitung. Beide haben in ihrer künstlerischen Praxis zahlreiche Grenzen überschritten: Die Grenzen gesellschaftlicher Konvention, Scham-, Schmerz- und Ekelgrenzen, Tabugrenzen, die Grenze zwischen Leben und Tod, und schließlich auch die Grenze zwischen Kunst und Leben. Ganz offensichtlich leisten also beide eine künstlerische „Arbeit an der Grenze“, wobei diese Arbeit ein grundsätzliches, großangelegtes Projekt ist, das sich keineswegs darin erschöpft, selbstzweckhafte Tabuverletzungen zu unternehmen, sondern bei dem die Grenzverletzungen als Mittel grundlegender Ziele dienen.
Zunächst zu Hermann Nitsch. Er hat die Idee seines „Orgien Mysterien Theaters“ seit Beginn der 1960er Jahre in mehreren Anläufen detailliert dargelegt und dabei historisch und theoretisch abgeleitet. In seinen Schriften bezieht er sich auf eine lange, rein männliche Ahnengalerie, die von Novalis und Philip Otto Runge über Richard Wagner, Nietzsche, Freud bis hin zu Stefan George, Schönberg, Klimt und Antonin Artaud reicht. Der Kern seines künstlerischen Projektes liegt darin, der Kunst die Potenzialität des Kultes zurückzugeben – was nichts Geringeres bedeutet, als einen mehr als zweieinhalb Jahrtausende langen Prozess umkehren zu wollen. Im antiken Griechenland hat sich bekanntlich aus den Mysterienkulten die Tragödie und damit die Kunst als eine eigene Sphäre neben dem Mythos herausgebildet. Diese Entwicklung von der kultischen Handlung zur künstlerischen Mimesis, die die Grundlage für die gesamte abendländische Kulturtradition bildet, gipfelte in der modernen Konzeption von der Autonomie der Kunst, die der Kunst eine gleichermaßen privilegierte wie von der Lebenspraxis abgetrennte Position zuschreibt. Gegen diese Abtrennung der Kunst von der Lebenspraxis wendet sich Nitsch, als er 1960 Kunst als „religionsgleiche Auseinandersetzung mit der Existenz“ proklamiert, was kurz darauf zur Konzeption seines „Orgien Mysterien Theaters“ führt, das er 1973 in Prinzendorf offiziell gründet und seither in zahlreichen ein- und mehrtägigen Spielen vollzieht, bis hin zur vollumfänglichen Realisation der 6-Tage-Spiele im Jahr 1998. Nach Nitschs Konzeption soll Kunst ermöglichen, die elementaren Lebensereignisse – Geburt, Tod, Sexualität, Gewalt, Schmerz, Angst etc. – zu bewältigen. Dies kann aber nicht in Form von museal präsentierten autonomen Kunstwerken geschehen, weil dies in seiner Harmlosigkeit und Lebensferne der wahrhaften Intensität und Dramatik des Existenziellen niemals gerecht werden könnte. Notwendig ist aus seiner Sicht anstelle des Mimetischen und damit einer Ersatzhandlung ein reales Durchleben, Durchagieren der existenziellen Gefühle und Vorgänge im realen Ereignis, wobei diesem realen Ereignis immer zugleich eine symbolische Dimension eignet. Schlachtungen, Kreuzigungen, Bespritzen mit Blut, Wein, Samen und anderen symbolisch aufgeladenen „Ur-Substanzen“ sind Varianten und Wiederholungen der Figur des „Opfers“, die den Kern des traditionellen Ritus bildet. Nitsch verbindet einen religiösen Synkretismus mit Ideen der Theaterreformbewegung und mit psychoanalytischem und tiefenpsychologischem Gedankengut, das er freilich den ursprünglichen Intentionen ihrer Verfasser entrissen und in vielfacher Hinsicht transformiert hat.
Im Kern geht es Nitsch darum, mittels der Durchführung kontrollierter und ritualisierter kollektiver Exzesse an verschiedenen Nahtstellen von Leben und Tod, von Reproduktion und Zerstörung physiologische und psychologische Formen der Bewältigung dieser existenziellen Themen zu gewinnen. Dies ist ein universalistisches Programm, das an Gedankengut der Frühromantiker anknüpft, die die Vorherrschaft der Vernunft und die daraus resultierende Entzweiung von Mensch und Natur durch die Erschaffung einer synthetischen „Neuen Mythologie“ angestrebt hatte. Der wichtigste Stichwortgeber für Nitsch aber ist Richard Wagner mit seinem Konzept des Gesamtkunstwerks. Wie Wagner in seiner Schrift „Das Kunstwerk der Zukunft“ (1849) forderte, und radikaler als dieser, strebt Nitsch in seinen Sechs-Tage-Spielen an, den Spielcharakter, das „als Ob“ der theatralischen Aufführung auf einer Guckkastenbühne durch den realen Vorgang und das reale Erlebnis zu ersetzen, und wie dieser will er folglich die Trennung von künstlerischen Präsentation und passivem Publikum überwinden und Akteure und Zuschauer zu einer Einheit verschmelzen. Wagner hatte dies mit dem historischen Vorbild der griechischen Polis begründet, die sich in der gemeinsamen Rezeption der Tragödie zusammenfand. Nitsch geht noch einen Schritt weiter zurück in die Geschichte, indem er sich nicht nur auf die griechische Klassik bezieht, sondern auf jene frühere Entwicklungsstufe, in der dem ekstatischen Dionysos in rauschhaften Exzessen gehuldigt wurde – noch ohne jene Trennung von Akteuren und Publikum, die ihren architektonischen Ausdruck im Amphitheater fand, bei dem erstmals Bühne und Zuschauerränge getrennt wurden.
Als wesentliches Mittel zur Realisierung dieser Einheit und zur Intensivierung des sinnlichen Erlebnisses setzte Wagner die synästhetische Verbindung verschiedener künstlerischer Gattungen, v.a. Musik, Sprache und Gestus, aber auch Bühnenbild und Raumerlebnis ein; Nitsch radikalisierte dieses Verfahren durch den Einsatz stärkerer Reize, etwa durch die Erzeugung „nicht-kultureller“ Klänge, aber auch indem er die in der traditionellen Kultur als „niedrig“ angesiedelten, aber besonders tiefe seelische Schichten anrührenden Sinne des Geruchs, Geschmacks und Tastsinns intensiv mit einbezieht.
Es mag scheinen, als versuche Nitsch – wie Armin Zweite es formulierte – den „Prozess der Zivilisation“ aufzuheben. Doch wäre es verkürzt zu sagen, er wolle die antiken Mysterien gewissermaßen regressiv wiederherstellen. Dagegen sprechen sein Einsatz artifizieller Mittel und die detaillierte Planung der Aktionen, vor allem der rationale und theoriegeleitete Zugang, der sich nicht nur in zahlreichen Reden, Aufsätzen und Büchern niederschlägt, sondern auch darin, dass Nitsch am Vorabend seiner Aktionen in einem Vortrag ausführlich über deren Sinn und Hintergründe informiert. Nitschs Programm ist weit umfassender angelegt. So spricht er davon, dass sich „durch die Geschehnisse des o.m. theaters (…) die Geschichte unseres Bewusstseins nacherzählen“ solle, d.h. dass sich der menschheitliche Entwicklungsgang vom Mythos zur Philosophie immer wieder aufs Neue vollziehe. Im individuell erlebten Ereignis soll die menschliche Kulturgeschichte nachvollzogen und als Einheit erfahren werden, d.h. das mythische Erleben soll durch das philosophische Denken nicht aufgehoben, sondern mit diesem verschmolzen werden. Letztlich zielt das auf die Transformation des Gegensatzes von Sinnlichkeit und Rationalität in eine höhere geistige Dimension. Die Orgiastik dient als Weg zur Transzendenz.
Dabei bin ich beim Thema der Grenzüberschreitung, denn wörtlich bedeutet Transzendenz ja nichts anderes. Grenzüberschreitung ist das Zentralthema von Nitsch, und damit meine ich nicht die gesellschaftlichen Tabus, gegen die er verstößt, sondern viel grundsätzlichere Grenzen: Erstens die Grenze der menschlichen Zivilisation selbst, die nach Freud ein hilfloser Versuch zur Bewältigung elementarster Daseinsfragen ist, der diese nur notdürftig bewältigt und neue Probleme hervorruft. Ihre Grenze will Nitsch durchstoßen, um gewissermaßen in einem neuen Anlauf einen brauchbareren Bewältigungsansatz hervorzubringen. Und zweitens und eigentlich die Grenze von der nackten menschlichen Existenz zu ihrer metaphysischen Bewältigung, wobei diese metaphysische Bewältigung in Nitschs Vorstellung die mythischen, religiösen und philosophischen Bewältigungsansätze in sich aufheben soll.
Welchen Stellenwert hat in diesem Zusammenhang die Grenze zwischen Leben und Kunst? Sie zu überschreiten ist für Nitsch nicht das Ziel, sondern eher ein unvermeidlicher Nebeneffekt seiner Bestrebungen. Der „durch die rituale des o.m. theaters eingeleitete prozess weitet sich letztlich aus zu einem ontologischen vorgang“, betont Nitsch immer wieder. Andererseits hat er schon früh erkannt, welchen Nutzen der Autonomiestatus der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft gerade für solche Künstler hat, die wie er gegen kulturelle Grenzen verstoßen. So legte er bereits 1970 ausführlich dar, dass seine Aktionen „dem prinzip der form“ unterlägen, dass die in ihnen ausagierte „dionysische aufwallung“ durch Spielregeln „gebändigt“ würden und es letztlich um die „findung neuer ästhetischer werte“ gehe. Insofern hat er also die „Institution Kunst“ (Peter Bürger) als geeigneten Rahmen für seine Bestrebungen akzeptiert. Und wenn sich seine Aktionen auch oszillierend an der Grenze zwischen Kunst und Leben bewegen mögen, so bleibt ihnen doch das Prinzip des Spiels, des „Als-ob“ letztlich ebenso konstitutiv wie für eine konventionelle Theaterinszenierung. Der „ontologische Vorgang“ ist verlagert auf die Rezipienten, auf deren innere Verarbeitung und Entwicklung nach den Spielen, und darin liegt letztlich doch eine Verwandtschaft mit dem aristotelischen Theater.
Nun zu VALIE EXPORT – wobei ich mich im Folgenden auf ihre Expanded Cinema-Aktionen der 1960er und 70er beziehe, nicht auf die späteren Filme. Auch sie arbeitete in dieser Zeit am Körper, auch sie hat dabei zahlreiche Grenzen überschritten, und auch sie hat diese Arbeit von Beginn an theoretisch reflektiert und in verschiedenen Schriften erläutert. Ihre theoretischen Referenzen sind jedoch vollkommen anders gelagert: schon lange vor dem allgemeinen Hype um die „französischen“ Theoretiker setzt sie sich mit Claude Levy-Strauss, den Poststrukturalisten und der Semiotik auseinander. Dabei fällt auf, dass ihre Bezüge zu diesen Autoren hauptsächlich implizit erschließbar sind, denn nur selten benennt sie ihre auktorialen Bezugspunkte explizit – vermutlich um eine patriarchale Genealogie zu vermeiden. Die Namen von Künstlerinnen hingegen – etwas Gertrude Stein und Virginia Woolf – spielen in ihren Texten eine explizite Rolle; durch ihre Bezugnahme auf ältere zeitgenössische Künstlerinnen wie Meret Oppenheim oder Maria Lassnig entwickelt Valie Export von Anfang an eine regelrechte weibliche Genealogie, in die sie sich selbstbewusst einreiht. Ein grundsätzlicher Unterschied zu Hermann Nitsch besteht aber auch hinsichtlich des Charakters der theoretischen Texte von VALIE EXPORT. Sie bilden in ihrer Gesamtheit weniger ein in sich geschlossenes System mit klar umrissener Programmatik als vielmehr ein offenes Projekt, einen prozesshaft-analytischen, immer neu ansetzenden Untersuchungsvorgang, der allerdings durchaus im Dienste programmatischer Absichten steht.
Die Grenze, die sie seit nunmehr über 40 Jahren künstlerisch bearbeitet, ist in erster Linie die Geschlechtergrenze. Präziser gesagt: es sind die sichtbaren und unsichtbaren Grenzen, die Weiblichkeit markieren und diese zu einem Territorium erst machen; einem Territorium, das definiert ist, verfügbar, ausbeutbar. Es geht um Grenzen, die den Frauen als Subjekten dieser Weiblichkeit seelisch und körperlich eingeschrieben sind. Die frühen Aktionen widmen sich jeweils spezifischen Aspekten dieser Grenzen, und immer geht es darum, sie überhaupt erst einmal spürbar, wahrnehmbar zu machen. Das Mittel, mit dem diese Wahrnehmbarkeit erzeugt wird, ist die Berührung, das Anrühren dieser Grenzen, und dies geschieht auf doppelter Ebene: einer unmittelbar körperlichen und einer symbolischen. Paradigmatisch ist hierfür die Aktion „Hyperbulie“ (1973), bei der VALIE EXPORT sich zwischen elektrisch geladenen Drähten bewegte und diese immer wieder bewusst anstieß, dabei zahlreiche Stromschläge in Kauf nehmend. Gerade die Deutlichkeit und Einfachheit dieser Aktion, die unmittelbar auf der Ebene körperlicher Empathie funktioniert, lässt auch die symbolische Ebene unmittelbar aufscheinen, indem sie nicht nur die kulturell determinierten Grenzen von Weiblichkeit sichtbar werden lässt, sondern auch deren Konstruiertheit und damit Veränderbarkeit. „Die Macht der Konstruktion und die dekonstruktive Gegenmacht der Kunst“ könnte man als das Leitthema von VALIE EXPORTs Arbeiten benennen. Geschlechterrollen, soziale Rollen allgemein, erscheinen bei ihr nicht nur als sozioökonomische Setzungen, sondern als subjektiv erlebte und ständig reproduzierte, aber auch wandelbare Identitäten. Ein Beispiel ist die Fotoaktion „Identitätstransfer“ (1972), bei der sie bewusst in die weibliche Objektposition für den „männlichen Blick“ hineingeschlüpft ist. Gerade durch das Einnehmen weiblicher Rollenmuster macht sie deren „Rollenmusterhaftigkeit“ als solche erkennbar.
Anders als bei zahlreichen anderen feministischen Künstlerinnen in dieser Zeit besteht ihre Methode also gerade nicht darin, Gegenentwürfe zu den patriarchalischen Setzungen zu präsentieren, und schon gar nicht pflegt sie die Ideologie einer „positiv“ umgewerteten Weiblichkeit; vielmehr richtet sie den Fokus auf die vorgefundene gesellschaftliche Realität. Ihr Zugang zu dieser Realität ist aber auch kein sozialkritisch-politischer, sie prangert nicht an, sie fordert nicht; vielmehr agiert sie sie exemplarisch aus, übersteigert sie, treibt sie regelrecht auf die Spitze, schärft so deren Konturen und schafft auf subversive Weise die Voraussetzungen für deren neue Wahrnehmbarkeit. Die Aktion, in der dieser Zugang zur Realität am radikalsten erkennbar ist, ist zweifellos das „Tapp- und Tast-Kino“ (1968), bei dem die allgegenwärtige visuelle Verfügbarkeit des weiblichen Körpers durch deren Übersetzung in eine haptische Verfügbarkeit schockhaft erlebbar wird.
Mit diesem Verfahren der bewusst machenden Übersteigerung steht VALIE EXPORT in der Tradition von Brechts Verfremdungsstrategie. Allerdings geht sie noch einen entscheidenden Schritt weiter als Brecht, insofern sie eine semiologische Perspektive einnimmt. Die gesellschaftliche Realität erscheint bei ihr nicht primär als essentielles Faktum, sondern als Element eines zeichenbildenden Prozesses, der sich aber wiederum in gesellschaftlicher und subjektiver Realität manifestiert. Konkret: Weiblichkeit erscheint als Konstrukt, basierend auf Codes, die dem Körper eingeschrieben sind, sodass ein von konstituierenden Zuschreibungen freier „realer“ Körper nicht existiert, vielmehr jede Zuschreibung individuell im Körper erlebt, erlitten, bearbeitet wird. Visuell umgesetzt hat VALIE EXPORT dies in ihrer „Body Sign Action“ (1970), bei der sie sich auf ihren linken Oberschenkel ein Strumpfband tätowieren ließ; also ein Symbol weiblicher sexueller Objekthaftigkeit. Ähnlich wie beim „Tapp- und Tastkino“ wird hier ein strukturelles Machtverhältnis dem eigenen Körper eingebrannt, also materialisiert – ein Verfahren, das man vielleicht metaphorisch mit dem Versuch vergleichen könnte, einem Waldbrand mittels eines Gegenfeuers entgegenzutreten.
Indem VALIE EXPORT an der Geschlechtergrenze arbeitet, legt sie weitere Tiefenschichten dieser Grenze bloß, zeigen sich neue, hartnäckigere Grenzen: etwa die zwischen Biologie und Gesellschaft, zwischen Zeichen und Bezeichnetem, zwischen Realem und Imaginärem. Im Kern bewegt sich ihre Arbeit an der Grenze von Realität und Repräsentation, wobei entscheidend ist, dass diese Grenze im (weiblichen) Körper selbst verläuft. Wenn der Körper als Zeichenträger mit Codes belegt ist, ist diesen nicht zu entkommen. Notwendig ist daher eine Arbeit nicht nur am Körper, sondern auch an den Codes. Es ist daher folgerichtig, dass VALIE EXPORT von Anfang an ihre Körperaktionen medial begleitet hat, also mit Fotografie und Video. In der fotografischen bzw. filmischen Repräsentation der Körperaktion liegt ein Moment der Spaltung, das die grundsätzliche Spaltung, mit der wir es zu tun haben, symbolisch wiederholt und damit sichtbar macht. Sichtbarmachung durch Wiederholung ist ja eine Grundstruktur ihrer Arbeit, die uns auf allen Ebenen begegnet. In diesem Zusammenhang ist charakteristisch, dass sie ihre Körperaktionen von Beginn an mit dem Begriff des „Expanded Cinema“ belegt hat; es ging ihr einerseits darum, die Grenze der Filmillusion in die Erfahrungswirklichkeit hinein zu überschreiten, andererseits die immer schon mediale Dimension alles „Realen“ zu thematisieren.
Mitte der 1970er Jahre entstand nach mehreren experimentellen Kurzfilmen ein erster Spielfilm, dem weitere Spiel- und Fernsehfilme folgten. Seit den 80er Jahren hat VALIE EXPORT ihre Körperaktionen eingestellt und arbeitet ausschließlich medial. Das hat eine gewisse Logik, denn wenn man gesellschaftliche Realität als Produkt kodifizierender Handlung begreift, ist eine nicht medial vermittelte Realität praktisch undenkbar; Realitätsveränderung im Sinne emanzipatorischer Bestrebungen ist demnach nur in Gestalt von Eingriffen auf der Ebene der Repräsentation denkbar, gewissermaßen als ein Aufweichen, ein Zerhacken, ein Abstreifen von Signifikanten. Auch für diese künstlerische Herangehensweise gibt es historische Vorläufer in der klassischen Moderne: an vorderster Stelle die Dadaisten und Surrealisten mit ihrem Einsatz der Collage und des Fragments als Mitteln der Hinterfragung bestehender Darstellungskonventionen. Wie bei diesen steht bei VALIE EXPORTS künstlerischer Arbeit die verstörende Visualisierung und Dekonstruktion im Zentrum. Die Grenze, an der sie arbeitet, die Grenze der Repräsentation, ist nicht überschreitbar, sondern nur verschiebbar und veränderbar. Dementsprechend zielen ihre Aktionen weniger auf Grenzüberschreitung als auf Erweiterung und Neudefinition. So wird auch die Grenze zwischen Kunst und Leben bei VALIE EXPORT nicht aufgehoben, sondern dahingehend modifiziert, dass Elemente des Realen in die Kunst integriert und damit zu veränderbarem Material werden.
Ich fasse zusammen: Nitsch und EXPORT im Vergleich ergeben also nicht nur zwei sehr heterogene Positionen aktionistischer Praxis im Wien der 1960er Jahre ff., sondern geradezu entgegen gesetzte Pole. Wie fundamental die Differenz ist, wird gerade daran deutlich, dass für beide die Beziehung von Kunst und Realität ein zentrales Thema ist, sie aber grundlegend verschiedene Zugänge zum „Realen“ haben. Während Nitsch auf die Erfahrung realer Lebensvorgänge und Transzendenzerfahrung abzielt, stellt VALIE EXPORT eine essentialistische Auffassung des Realen prinzipiell infrage. Während bei Nitsch die Überschreitung der Grenze von Kunst und Leben eine abhängige Variable seines universalistischen Projekts der Daseinsbewältigung ist, wird sie bei VALIE EXPORT als Grenze von Realität und Repräsentation sichtbar gemacht, ausgeweitet, verschoben, aber nicht aufgehoben. Mit diesen gegensätzlichen Positionen stehen Nitsch wie EXPORT beide gleichermaßen in der Tradition der historischen Avantgarden, allerdings beerben sie jeweils unterschiedliche Ahnen: Nitsch knüpft an diejenigen Avantgarden an, die in der Tradition des romantischen Universalismus und von Wagners Gesamtkunstwerk zu verorten sind und auf „Synthese“ abzielen – die Theaterreformbewegung und die synästhetischen Experimente der 20er Jahre, Alexander Skrjabin mit seinem nie verwirklichten „Mysterium“ oder das utopische „Lebenbauen“-Projekt der russischen Konstruktivisten. Dagegen steht VALIE EXPORT in Verbindung mit denjenigen Avantgarden, die eine ironisch-kritische, auch zeichenkritische Analyse durch Fragmentierung und Montage betrieben haben – allen voran die Dadaisten und Surrealisten. Diese unterschiedlichen Genealogien zeigen, wie weit das Spektrum dessen ist, was unter dem Begriff „Avantgarde“ gefasst werden kann, und zugleich lassen sie erkennbar werden, wie vage Peter Bürgers Kategorie der „Selbstkritik der Institution Kunst“ ist. Beide, Nitsch wie EXPORT betreiben durchaus eine Selbstkritik der Institution Kunst – aber innerhalb der Grenzen und mit den Mitteln der Institution Kunst, d.h. sie haben beide auf unterschiedliche Weise zu deren Erweiterung beigetragen. Auch dies haben sie gemeinsam mit den historischen Avantgarden vom Beginn des 20. Jahrhunderts.
Damit komme ich abschließend auf eine Frage, die im Vorfeld dieser Tagung zur Sprache gekommen ist, die Frage: handelt es sich bei den verschiedenen Spielarten der Wiener Aktionskunst eigentlich um eine „späte“ oder um eine „Neo-Avantgarde“? Offenbar (das ist jedenfalls der Eindruck den ich gewonnen habe) haben sich die Wiener AktionskünstlerInnen in den 60er/70er Jahren selbst als eine „späte“ Avantgarde verstanden, also nicht so sehr als eine Nachwuchsgeneration der Futuristen, Dadaisten, Surrealisten, gewissermaßen deren Kinder, sondern eher als Nachzöglinge, also gewissermaßen sehr viel jüngere Geschwister. Das ist eine grundlegend andere Selbsteinschätzung als diejenige der Happening- und Fluxus-Künstler, die sich von Beginn an als eine ganz neue Generation empfanden. Der Hintergrund für diese differente Selbsteinschätzung dürfte ein doppelter sein: 1. der, dass Wien um 1900 ein Zentrum der kulturellen Innovation gewesen war, diesen Charakter aber in der Hoch-Zeit der klassischen Avantgardebewegungen 1910 – 1930 bereits verloren hatte und durch die Hochburgen der historischen Avantgarden Berlin, Paris, Mailand und Moskau etc. abgelöst wurde; und der 2. Grund liegt sicherlich in der spezifischen Wiener Situation der 1950er/60er Jahre, die die Empfindung einer totalen Zurückgebliebenheit in reaktionär verkrusteten Verhältnissen auslösen musste. Die subjektive Einschätzung besagte also, dass man etwas nachzuholen habe, was andernorts bereits geleistet worden ist.
Andererseits gab es natürlich eine Kenntnis und intensive Rezeption der historischen Avantgarden, auf die bewusst Bezug genommen wurde – und genau das ist ja konstitutiv für „Neo“Bewegungen. Neo-Bewegungen nehmen den Faden auf, den andere hinterlassen haben und spinnen ihn weiter, wobei sie ihre Vorläufer kritisieren, die Richtung ändern oder auch die Tendenz verschärfen können. Jedenfalls eignet dieser Figur des Aufnehmens und Weiterspinnens ein doppeltes Moment: ein reflexives, sich mit den Vorläufern auseinandersetzendes – und ein aktuelles, auf die eigene Zeit bezogenes. Genau das kann man bei Nitsch wie bei VALIE EXPORT gleichermaßen konstatieren: Alles, was Hermann Nitsch tut und sagt, reflektiert die Idee des Gesamtkunstwerks, und zugleich erweitert es sie, im Einklang mit dem Zeitgeist der 60er Jahre, um die Elemente der Psychoanalyse und der sog. sexuellen Befreiung. VALIE EXPORT reflektiert das Erbe der Surrealisten und reichert es, im Einklang mit dem Zeitgeist der 70er Jahre, um die neuen Elemente des Feminismus sowie der zeichen- und medientheoretischen Reflexion an. Beide sind deshalb m.E. selbstverständlich als Neo-Avantgardisten zu verstehen.
Anders als Peter Bürger verbinde ich mit dieser Kategorie keineswegs eine Abwertung. Bürger hat den Neo-Avantgarden vorgeworfen, ihre eigenen provokativen Gesten gingen ins Leere und bestätigten nurmehr die „Institution Kunst“; durch ihre Referenz auf die historischen Avantgarden hätten sie dazu beigetragen, die Avantgarde als Kunst zu institutionalisieren und würden damit die „genuin avantgardistischen Intentionen“ negieren. Tatsächlich ist, wie ich gezeigt habe, die „Aufhebung der autonomen Kunst in Lebenspraxis“ nicht das primäre Anliegen von Nitsch und EXPORT, die die Existenz der „Institution Kunst“ beide nicht explizit in Frage stellen, sondern eher mit ihren Praxen deren Erweiterung wesentlich mit bewirkt haben. Das haben sie im Übrigen mit den historischen Avantgarden gemeinsam, die nämlich ebenfalls (wie Hal Foster zu recht betonte) ganz andere, viel spezifischere Intentionen hatten als die „Zerstörung der Kunst“ und die durch Peter Bürgers Avantgardetheorie unangemessen mythisiert worden sind. Die Thematisierung von Grenzen, die Überschreitung, vor allem die Erweiterung von Grenzen sind in der Tat Anliegen der Avantgarden wie der Neo-Avantgarden. Doch es ist vielleicht gerade das besondere Verdienst der Neo-Avantgarden, uns darauf gestoßen zu haben, dass es nicht gilt, die „Grenzüberschreitung“ an sich zu heroisieren, sondern vielmehr die jeweiligen Formen und Ziele der Bearbeitung konkreter Grenzen differenziert und präzise zu benennen.
Verena Krieger, Univ. Prof. Dr., Professorin für Kunstgeschichte an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Zuvor Lehrtätigkeit an den Universitäten Stuttgart, Bern, Jena und München sowie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Forschungsschwerpunkte: Konzepte des Künstlers, Geschlechterkonstruktionen in Kunst und Kunsttheorie, Überschreitungen des Kunstbegriffs, Avantgarde und Politik, Ambiguität in der Kunst. Wichtigste Buchveröffentlichungen: Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines anhaltend aktuellen Topos (Hg. gem. m. Rachel Mader 2009); Kunstgeschichte und Gegenwartskunst. Vom Nutzen und Nachteil der Zeitgenossenschaft, (Hg. 2008); Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007; Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne (Habilitationsschrift), Köln/Weimar/Wien 2006; Metamorphosen der Liebe. Kunstwissenschaftliche Studien zu Eros und Geschlecht im Surrealismus (Hg. 2006).