Die Corona-Pandemie hatte längere Zeit größere Zusammenkünfte weitgehend verunmöglicht. Danach sind wir übereingekommen, uns mehr mit der Gegenwart zu befassen und mit der Frage, wo und wie Avantgarden heute agieren und zu verorten sind. Avantgarden haben stets auf gesellschaftliche Krisen geantwortet. Und Krisen gibt es zweifellos zahlreiche.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen unseres Netzwerks haben in mehreren Gesprächen besorgt die Entwicklung der Sprache in Richtung informeller Zensur bis hin zu Verboten thematisiert. Es gibt zu denken, dass sogar der chinesische Künstler Ai Weiwei es als „Gefahr für die westliche Welt sieht, wenn man konkrete Konfrontation vermeidet und nicht mehr mit rationalen Argumenten streitet, sondern sich nach der moralischen Haltung irgendeiner Elite orientiert. Das unterscheide sich nicht von der Kulturrevolution Chinas: Wenn Sie eine Ideologie einfordern und die anderen Ideologien auslöschen, wird die Gesellschaft faschistisch.“ Bahnt sich hier eine gefährliche Entwicklung an, die unsere demokratische Kultur und die Freiheit der Forschung bedroht?
“Offene Sprache”
Der Themenbereich rund um Canceling, kulturelle Aneignung und Gender, der die laufenden Auseinandersetzungen an den Universitäten und in den Medien prägte und noch immer prägt, bewegte auch einige Mitgliedern von ViennAvant sehr. Unter dem Arbeitstitel „Offene Sprache“ begann im Herbst 2022 eine interdisziplinäre Runde von 8 Mitgliedern damit, dieses Feld in Gesprächsnachmittagen zu untersuchen. Zwischen November 2022 und Oktober 2023 gab es 6 Treffen dieser Gruppe in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur dazu, einmal mit Gästen. Fragen zu stellen war ein Ansatz für diese Gesprächsreihe. Als Ziel war die Vorbereitung einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung zu diesem Themenbereich in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur angedacht.
Zusammenfassung des ersten Treffens am 28. Nov. 2022.
Am 28. November, 15 Uhr trafen sich in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur Eva Badura, Thomas Eder, Elisabeth Großegger, Helga Köcher, Christoph Leitgeb, Hermann Schlösser und Gisela Steinlechner mit dem Hausherrn Manfred Müller, um unter dem Stichwort „Offene Sprache“ die verschiedenen Aspekte der aktuellen „Cancel Culture“ zu erörtern. Ziel ist die Vorbereitung einer öffentlichen Veranstaltung zu diesem Thema im kommenden Jahr.
Konkretisierung
Zu Beginn werden zur Frage “Was ist Cancel Culture?” Beispiele gebracht.
Dass Political Correctness wichtig sei, dazu gibt es mehrheitlich Übereinstimmung. Das Problem sei die missbräuchliche Verwendung. Was aber ist Missbrauch und wie werden die Grenzen gezogen?
Kunst verlange per se Freiheit und sei in abgezirkelten Erlaubnisräumen nicht möglich.
Meine Freiheit endet dort, wo ich Dir Schaden zufüge.
Ein eigenes Kapitel sei Antisemitismus. Die abgelaufene documenta wird diskutiert, und dass, wie seriöse Stimmen meinen, die Kunst und auch das Anliegen des kuratorischen Teams in der sich skandalisierenden Medienempörung völlig untergegangen seien.
Medienkritik.
Diskussion zur Rolle der Medien und zur Notwendigkeit von Medienkritik. Gewisse Themen werden hochgespielt. Die Durchlässigkeit der Medien ist ein Problem. Jede Aussage wird zu einer Gratwanderung.
Es gibt die teils berechtigte Angst vor „falschen Freunden“. Wenn man aus dem linken Spektrum auch nur ein wenig ausschert, wird man gleich nach rechts geschoben.
In dieser Situation befinden sich vermutlich auch Mainstream-Medien und sehen sich deshalb – mit Recht? – dem Vorwurf der Vereinheitlichung ausgesetzt. Es gibt jetzt eine Redaktionslinie, die bestimmt, was gesagt und berichtet werden darf. Meinungsvielfalt und Diskurs sind nicht mehr möglich.
Argumente, die in konkreten Einzelfällen richtig sind, werden zum allgemeinen Terrorinstrument. Das ist Missbrauch.
In den sozialen Medien wird alles multipliziert und auch vereinfacht. Es gibt nur mehr richtig und falsch – das ist aber etwas anderes als wahr und unwahr. Es gibt Fakten.
Politik und Sprache, Politisierung von Sprache
Politik als Sprachkontrolle.
Trump-Problem: Genderdebatte. Genderdebatte ähnelt der Asyldebatte in der ÖVP.
In der Ausdifferenzierung von Gendern sind wir an einem Punkt angekommen, wo nichts passiert.
Rechtschreibung ist für die Schulbücherverlage zum Problem geworden.
Auch Kinderbücher sind ein schwieriges Thema. Beispiel Hatschi Bratschi.
Die Wiener Gruppe hat gezeigt, wie Politik von Sprache abhängt.
Wie beeinflusst Sprache das Denken?
Scheitert liberale Politik immer?
Ökonomischer Aspekt
Beispiel: Eine ORF-Redakteurin meint zur Interviewten, sie sei ja „pensioniert, da könne sie das jetzt sagen“. Die kritische Äußerung wird aber dann trotzdem im Beitrag nicht gebracht und die Redakteurin wird in eine andere Abteilung versetzt.
Haben Autor:innen, die kritisch auftreten, wirklich immer Nachteile? Das Beispiel Konrad Paul Liessmann wird diskutiert.
In Deutschland gibt es seit einigen Jahren eine lebhafte mediale Debatte zu diesem Phänomen. Auf die Publikation von Hanno Rauterberg „Wie frei ist die Kunst?“ wird hingewiesen.
Canceling wird von einigen als Druck /Terror von unten gesehen.
Im Gegensatz zu dem Druck, kritische Äußerungen zu dieser Entwicklung nicht zu veröffentlichen, gibt es umgekehrt die Strategie, mit Canceling von Konkurrent:innen zu reüssieren: Beispiel. Bild einer weißen Künstlerin, das schwarze Kunst zeigt, wird deshalb auf die Forderung einer schwarzen Künstlerin hin abgehängt, die sich dann durch diese Aktion Aufmerksamkeit und finanziellen Erfolg verschafft. Das ist auch ein Geschäftsmodell.
Obwohl man den Vorwurf von Zensur vermeiden möchte, gibt es bestimmte Formulierungen, die ein Buch ins Zwielicht bringen.
Auch das Beispiel Rene Margritte wird erwähnt.
Beispiel Thema Otto Muehl, wozu die Bemerkung einer Museumsdirektorin zitiert wird: „So jemandem würde ich nie eine Bühne geben“.
Sprache als Handlungsepistem
Die Sprache als Handlungsepistem: Beim Gendern zum Beispiel muss ich mich positionieren.
Oswald Wiener wird zitiert, der schon in den 80er-Jahren die Sprache als Zentrum der Veränderung ausmachte.
Wir sind im Gegenstandsbereich. Frage: Wie wird das durchgeführt? Damit sind Zuschreibungen intendiert.
Einen Schritt zurück von den konkreten Themen zu den Gefühlslagen einzelner.
Wie steht’s mit der Relation von Weltwahrnehmung und Sprachgebrauch?
Rolle der Ironie – z.B. in den Chat-Protokollen.
Sprachgebrauch
Das Definitionsproblem unseres Sprachgebrauchs wird angesprochen. Es gibt eine Vielzahl von Demos, die ganz verschiedene Freiheitsbegriffe durchspielen.
Sprachgebrauch ersetzt oft die Wirklichkeit.
Das berühmte Beispiel vom Glas, das als halbvoll oder halbleer angesehen wird. Die einen sagen jetzt: Das Glas ist leer. Die anderen: Es ist voll. Die dritten: Es gibt kein Glas. Man kann sich nicht mehr einigen. Diskurse fallen so stark auseinander, dass keine Verständigung mehr möglich ist.
Ästhetik darf für jeden Menschen sein.
Es gibt persönliche Entscheidungen – wie etwa Elfriede Jelinek mit Texten, Begriffen umgeht.
Zweifellos gibt es die Freiheit des Sprachgebrauchs, was andererseits von einigen auch als Problem gesehen wird.
Wie steh ich zu etwas und muss ich das jetzt allen sagen?
Debatte zur Frage „War es früher anders?“
Die Handhabung von Sprache wird eindeutig, hat eindeutig zu sein. Eine Verengung findet statt, keine Differenzierung ist mehr möglich. Die Kategorien Diversität und Ambivalenz gehen verloren.
Der Sprachgebrauch ist die Ebene, die uns alle betrifft. Wer bestimmt diesen Diskurs?
Man hält sich zur Sicherheit an bestimmte Vorgaben, von denen unklar ist, woher sie kommen. Eine Kollegin fühlt sich bei der übertriebenen Vorsicht, ungeschriebene Sprachverbote nicht zu übertreten, an die Nazizeit erinnert, von der jetzt Menschen genau wissen, was die Väter und Großväter damals hätten tun sollen.
Gibt’s so ein Grundrecht wie die Freiheit des Sprachgebrauchs?
Rechtslage
Diese ist unterschiedlich zwischen Europa und den USA:
In Europa gilt Meinungsfreiheit
In den USA gibt es die Redefreiheit, – die dort auch radikalen Faschismus erlaubt.
Welche Rechte hat jeder Mensch?
Welche konkreten Sprachverbote gibt es heute?
Was verbietet Appropriation? Das Bild müsste sprechen, ob es gut ist oder nicht
Gründe:
Wie kommt es zu dieser Entwicklung? Wer hat da was geändert?
Radiokolleg: Cancel Culture wurde von einer afro-amerikanischen Twitter-Gruppe erstmals verwendet.
Die Ideen von Political Correctness kommen von US-amerikanischen Philosophinnen und werden hier von den Jungen aufgenommen als eine Art der Protestkultur.
Was für Bedürfnisse drücken die Jungen da aus?
Das partielle Sprechen der Jungen: Im familiären Umfeld fordern Junge strenge Political Correctness von Älteren ein, privat dagegen ahmen die gleichen Jungen die Sprache von Rappern nach. (Beispiel von Thomas Raab)
Historisches Bewusstsein
Das Fehlen eines historischen Bewusstseins in der Debatte wird festgestellt. Diese Unterscheidung sei wichtig und müsse eingefordert werden.
Durch Canceling oder nachträgliche Veränderung mache man Bereinigung nach hinten, die eine Form von Geschichtsvergessenheit sei.
Beispiel Hans Magnus Enzensberger, der sich vehement dagegen wehrte als „Gewissen der Nation” bezeichnet zu werden. Dass der Dichter stellvertretend für sein Volk sich äußert, das war einmal eine historische Situation und es ist gut, dass das nicht mehr so ist. Früher konnte man Texte identifikatorisch lesen.
Übersetzung:
Durch das Fehlen des historischen Bewusstseins kommt es zu haarsträubenden verzerrenden Falschübersetzungen. Beispiel: Der Nigger von Joseph Conrad wird nun als „Der Niemand” übersetzt.
Gesellschaft
Wo stehen wir nun in unserer liberalen „Demokratie“, an welchem Punkt sind wir da angelangt? Es gab immer Abweichungen, es gab immer Zensur. Aber es gab immer Widerstand dagegen und die Rebellion fortschrittlicher Kreise.
Wieviel Freiheit vertragen wir alle? Warum kann Freiheit nun nicht mehr ausgehandelt werden?
Es gibt die „neue Empfindlichkeit“. Viele Verlage setzen schon vorsorglich eine Triggerwarnung auf das Deckblatt einer Publikation. Die Illusion wird damit befördert, dass wir alle so wahnsinnig empfindlich wären. „Wenn ich aber bei jeder andersartigen Meinung weinen muss, ist ja mit mir auch etwas nicht in Ordnung“.
Was passiert da mit unserer Gesellschaft? Was heißt es, ein kritischer Mensch zu sein?
Jetzt macht eine Winzigkeit einen Riesenunterschied. Alles wird moralisiert, in gut / schlecht eingeteilt.
Üblich, dass jemand sagt: Wenn die dabei ist, geh ich nicht hin….
Wer kriegt die Aufmerksamkeit? Wo kann man Aufmerksamkeit sonst erreichen?
Man muss diese Fragen weiterführen: Wo wird’s nicht mehr handhabbar?“.
Konsens darüber, dass Diskurs über Themen aus verschiedenen Gesichtspunkten möglich sein muss und zu einer Demokratie gehört. Es bräuchte Verständigung und gegenseitiges Verständnis in der Gesellschaft, nicht Spaltung.
RadioKolleg zu Cancel Culture: Calling in statt Calling out.
Frage des Formats
„Wo wollen wir hin?“ stellt ein Kollege die entscheidende Frage und plädiert für eine uns ja näher liegende Fokussierung auf die sprachlichen Grundlagen.
Ein Vorschlag wird gebracht, die konkreten Fälle zu recherchieren. Damit könnte diese Praxis der Cancel Culture diffamiert werden. Dieses Vorhaben erscheint allerdings sehr aufwendig.
Die Fülle der Themen erfordere ein Symposium, bringt ein Kollege ein.
Zusammenfassung des zweiten Treffens am 10. Jänner 2023:
Junge Generation.
Anfangs werden einige Beispiele zu der sehr unterschiedlichen Haltung von jungen Menschen zu diesem Phänomen gebracht, die diese Entwicklung zum Teil begrüßen, zum Teil als Unsinn abtun.
Menschen aus der jungen Generation sollen in unsere Diskussion einbezogen werden.
Überlegungen, wie z.B. Studierende von erklärten Gegnern von Cancel Culture wie den Professoren Konrad Paul Liessmann oder Robert Pfaller die Thematik betrachten.
Informationen zu verschiedenen Medienbeiträgen werden ausgetauscht.
Pronouns
In USA wird immer mehr der (richtige) Gebrauch von Gender Pronouns erwartet und diese Erwartung greift über soziale Medien auch in Europa Platz, vor allem im akademischen Feld. https://www.zrd-saar.de/de/ZRDyoung/Beitraege/Details/She-They-He-Him-Gender-Pronouns-in-Social-Media.html
Themenstrang Macht
Die Äußerung einer Meinung, die von der meinen abweicht, stört mich nicht, wenn sie nicht obligatorisch wird. Wie weit oder wie eng ist die Möglichkeit, seine Meinung zu sagen? Es entsteht der Eindruck, dass Vielfalt von Meinungen nicht mehr erwünscht ist.
Die Angst vor möglichem wirtschaftlichen Nachteil (Verlage) oder Ärger (Universitätsrektoren / Dekane) produziert vorauseilenden Gehorsam.
Es scheinen nur Formalitäten zu sein. Aber es geht um Machtstrukturen. Wann wird so ein Verhaltenscode zu einer Barriere?
Es sind kleine Gruppen, die es schaffen, etwas zu entfernen (Gomringer-Gedicht https://www.deutschlandfunkkultur.de/streit-um-gomringer-gedicht-auf-uni-fassade-die-alleen-100.html ). Diese Gruppen verschaffen sich damit Ermächtigung: „Wir haben es geschafft“. Ein Argument der Vertreterinnen: Die Umkehrung des bisherigen Machtgefüges: „Jetzt sind einmal nicht die alten weißen Männer, sondern jetzt sind wir dran“.
Ambivalenz
Was fehlt, ist ein Umgang mit Ambivalenz. Es ist ja möglich, an den meisten Personen und Situationen verschiedene Aspekte zu sehen. Der Umgang mit Grautönen ist das Schwierigste.
Jedenfalls ist hier etwas aus dem Ruder gelaufen.
Ambivalenz ist auch nur ein Hilfsbegriff. Das heißt nur, dass man sich nicht entscheiden kann.
Polyvalenz wird eigentlich wenig gebraucht.
Die Avantgarden waren auch stark diktatorisch.
Umgang mit Sprache
Der Umgang mit Sprache ist ein öffentliches Problem.
Ein Kollege formuliert ein Plädoyer für die Trennung zwischen Sprache und Wirklichkeit. Es ist ihm wichtig, das Gefühl aufrecht zu erhalten für die Unterscheidung zwischen dem, was auf sprachlicher Ebene passiert und dem, was in Wirklichkeit passiert. Denken wir an den Beginn des Geschlechter-Splittings. Damals waren Frauen zweifellos unterrepräsentiert. Damals war die Frage: Wie schaffen wir Awareness für Frauen? Und mit den Jahren ist das ja auch in der wirklich geschehen. Dass Gender kulturell konnotiert ist, hat sich zweifellos durchgesetzt; das Geschlechterverhältnis ist heute viel flexibler als in den 80er-Jahren. Aber ein bedeutender Aspekt, die Seite der gesellschaftlichen/ökonomischen Realität, ist von dieser Veränderung überhaupt nicht berührt worden.
Eine gewisse sprachmagische Haltung ist diesen Veränderungsversuchen immer eigen. Es gibt den Glauben, dass „ich den Rassismus verbannt habe, wenn ich nicht Neger sage“, stimmt ein anderer Kollege zu.
Bei Cancel Culture steht genau dieses Denken im Vordergrund.
Wie und wodurch wird welche Veränderung realisiert und wie weit geht man da?
Wie gehen wir mit Geschichte um? Wie gehen wir mit historischer Literatur um? Wie viel trauen wir uns zu? – Da ist etwas in dieser Welt, mit dem wollen wir nichts mehr zu tun haben. Da sind wir aber bei der Zensur.
Sprachverbote führen schon deshalb nicht weiter, weil Verbote immer beides schaffen: Verhinderung und Trotzdem-Benützung. Ziel für den Umgang mit problematischen Begriffen wäre es ja, die Diskussion zu fördern, um zu den Wurzeln eines Problems vorzustoßen.
Triggerwarnungen.
Es wird gewarnt vor etwas, was nicht in die eigene Echokammer passt. In England sind Triggerwarnungen gang und gebe. Wenn es in einem Buch um irgendeine problematische Geschichte geht, dann wird eine Triggerwarnung vorangestellt. Damit wird aber der Literaturbegriff in Frage gestellt. Da geht es ja um das Verständnis von Literatur an sich.
Der Verlag macht das nicht aus Sorge um die Leser, sondern weil er sich als brav positionieren will. Das ist Identitätspolitik. Es geht gar nicht mehr um die Freiheit, Mann oder Frau zu sein, sondern wer das ist, wer es genau ist. Wenn es der Richtige ist / nur wenn es der Richtige ist, darf er das sagen und darf er sich als das deklarieren, was er will. Es geht im Moment in die Gegenrichtung von Freiheit.
Das ist der Effekt des Moralisierungsgebots und genau diese Heuchelei zieht sich dann durch alle Diskurse.
Kunst:
Ich frage mich seit einiger Zeit, wie weit der Kunstbegriff, in dem wir alle aufgewachsen sind, noch gilt, z.B. dass man zwischen Text und Autor radikal unterscheiden muss. Inzwischen zählt die Identität des Menschen, der schreibt. Es werden nur noch Identitäten gesehen. Die Tugend ist jetzt der Maßstab für Kunst.
Gut oder schlecht. Vieles versteh ich eigentlich erst mit der Zeit, z.B. dass viele Lehrsätze der Moderne nicht mehr gelten. Und dass man, wenn man solche Lehrsätze behalten will, aufgefordert ist, die Grundlagen zu überdenken.
In der Realität darf ich heute alles, mein Geschlecht wechseln, meine Kleidung… Absurderweise darf ich im Theater nun alles Mögliche nicht mehr. Aber die Kunst ist immer ein offener Raum. Wenn er geschlossen ist, dann ist es keine Kunst mehr.
Im 18. Jhdt. hat man Theaterstücke so umgeschrieben, dass sie ein Happy End hatten.
Die neue Haltung ist: Kunst muss etwas sein, was mich bestätigt.
Wie steht es mit der Kunst als Wirkmodell?
Der Anschein, die unbekannte Steuerung
Es geht darum, wie jemand gesehen werden will. Es geht ja allen um die Sichtbarkeit. Und zwar um die Sichtbarkeit der Person, nicht des Werks.
Wichtig ist jetzt die Frage: Wer darf das übersetzen? – Über das Gedicht ist nicht gesprochen worden.
Das wirkliche Canceling sind ja nur wenige Einzelfälle, die sich bei näherer Betrachtung meist in Luft auflösen. Dieses Argument kann ich nachvollziehen. Mich bewegt die Frage „Cui bono? Wie kritisiert man etwas, was man wahrnimmt, ohne es konkret nachweisen zu können?
Wer sagt, dass das nicht geht? Das ist eine kleine Gruppe.
Elite-Diskurs – die Abgehängten
Es scheint so als wäre man in diesen Diskursen gefangen und könne sich nur auf die falsche Seite stellen, so oder so. Die einzige Chance, die man habe, um sich richtig zu verhalten, sei es, zur Seite zu treten.
Warum werden von den Eliten nicht die wirklichen Probleme diskutiert?
Die Wissenschaftler diskutieren schon etwas anderes, nur die Medien machen dann den Skandal draus.
Ist in der Medienwelt dieses Thema wirklich „die Gschicht“?
Medien vergleichen sich. Es gibt den Multiplikationseffekt und Konformismus. Sie haben ihre Blattlinie.
Ja, das war eine Zeit so, in der Vergangenheit.
Das Phänomen, das wir diskutieren, hat für einen gewissen Diskurs eine Bedeutung. Man schafft Tatsachen, Opfer. Abgekoppelte Universitäten.
Die Abgehobenheit der Uni ist problematisch.
Realisierung
Die Möglichkeit eines Symposiums wird erwogen, eventuell im IWK nach Muster des zweitägigen Workshops „Wiener Gruppe – Wiener Kreis“? Ebenso wird die Möglichkeit einer Veranstaltung hier in der OGL überlegt.
Es wäre interessant, zu einer Veranstaltung auch Gegenpositionen einzuladen und nicht nur den theoretischen Hintergrund zu betrachten, sondern auch die praktischen Seiten.
Frage: Als reine Kunstdebatte oder weitergefasst? Bei einer Begrenzung auf Literatur kommen die Leute, denen es um die exakte Rechtslage bei den digitalen Medien geht. Das ist wieder eine andere Debatte.
Ich will auch die “Sprache : Wirklichkeits-Debatte”. Das hätte dann eine größere gesellschaftspolitische Tragweite. Ich will mich nicht in die Gefahr begeben, gewisse Verknüpfungen nicht zu sehen.
Heitere Titel-Vorschläge: Diskursfabrik, Waschtag, Denkwerkstatt, Kopfwaschtag, Kopfwäsche.
Informelle Fortsetzung im Kaffeehaus
Drei Kollegen setzen das Gespräch noch im Kaffeehaus fort.
„Ich bin gefangen in dieser Verengung. Es wird mir verunmöglicht, meiner schöpferischen Kreativität freien Lauf zu lassen, wenn ich mich nur in bestimmten Grenzen bewegen darf“, sagt eine Kollegin und eine andere stimmt ihr zu: Der Prozess einer Entwicklung kann sich nicht mehr entfalten, weil das Terrain im Vorhinein schon bestimmt ist.
Es wird von einem Gespräch mit einer Psychoanalytikerin erzählt, die feststellt, dass in diesen aktuellen Diskursen die Psychoanalyse, das Unbewusste keinen Platz mehr hat. Was bedeutet das für unsere Gesellschaft? Für unser Menschsein? Es ist eine systematische Zurichtung hin zum Status des Maschinenmenschen, findet eine Kollegin.
Es entspinnt sich ein Gespräch über Künstliche Intelligenz. Dieser Begriff allein sei schon eine Lüge, denn da sei nichts intelligent. KI ist eine reine Rechenleistung. Trauriges Fazit darüber, wie viel wir alle diesen Technologiegiganten zuliefern. Es sei skandalös, dass KI auch von den Regierungen so stark gehypt wird.
Zusammenfassung des dritten Treffens am 27. Februar 2023.:
Manfred Müller musste sich krankheitshalber entschuldigen und damit ebenso für den Ort des vorgesehenen Treffens, die von ihm geleitete Österreichischen Gesellschaft für Literatur. Auch Thomas Eder war erkrankt. Die übrige Gruppe – Eva Badura, Elisabeth Großegger, Helga Köcher, Christoph Leitgeb, Hermann Schlösser und Gisela Steinlechner – traf sich im Café Bräunerhof zur Fortsetzung der Diskussion.
Die Interessensschwerpunkte der einzelnen am Thema:
Eine Kollegin schlägt vor, jeder solle seine persönliche Forschungsfrage zu der Thematik vorlegen. Dann ließe sich leichter klären, ob die Schnittmenge groß genug für ein Projekt ist.
Ihr Ansatz: Sprachkritik ist ein weites Feld. Ihr Thema ist die Gefahr, dass Political Correctness missbraucht wird, dass diese an sich wichtige Haltung ausufert zu einer Form von Zensur, ja zu Ansätzen, die einer Inquisition nahekommen. Beispiel dafür war die mediale Berichterstattung über die angeblich „antisemitische documenta“. Unter den Jungen ihrer Familie erlebt sie andererseits, dass Wokeness als Fortschritt gesehen wird. Von linker Seite diese anzupatzen gehe überhaupt nicht, sagen sie. Bei einer möglichen Diskussion auf einem Podium vermute sie also harte Bandagen, denen sie sich trotz großem Interesse an dem Thema nicht gewachsen fühle.
Eine andere Kollegin stellt fest: Es ist etwas im Wandel. Es gehe ja nicht darum, es aufzuhalten, sondern zu klären, was da geschieht. Wo passieren diese Dinge? An den Unis, in den Verlagen. Welche Themen tauchen auf? Wie kann man darüber reden? Wie das in die Vermittlung einbringen? Wo ist wirklich der Unterschied zwischen Zensur und Erneuerung? Wo verbiegen wir uns eigentlich? Wo tun oder sagen wir etwas nur, um nicht anzuecken? Wo fehlt das Abwägen? Wie steht es mit dem historischen Bewusstsein? Wie weit ist man bereit sich zu verbiegen? Sie befürwortet einen Workshop und ein Symposium.
Einer weiteren Kollegin geht es auch wesentlich darum, den historischen Kontext zu bewahren – in Literatur, in Theater. Es wird jetzt so getan als ob alles Gegenwart wäre. Bei Kunst gehe es aber um Imagination, es geht um eine Figur. Alles nur mehr ironisch darzustellen bzw. als postdramatisches Theater, sei eine Einengung. Kulturelle Aneignung dürfe es jetzt offenbar nur mehr in einer Richtung geben.
Ein Kollege sieht zwei unterschiedliche Themenstränge: Einerseits Gender: Wie positionieren sich einzelne Gruppen, die solche Themen behandeln, in der Öffentlichkeit, und wie werden sie öffentlich wahrgenommen? Je weiter wir diskutieren, umso mehr bewegen wir uns in einem Zwischenfeld, einem Zwischenbereich von Sprachgeboten, die jede / r seinem / ihrem Bereich entsprechend pragmatisch betrachtet bzw. erfüllt. Andererseits das Canceling von „nicht Akzeptablem“. Antisemitismus ist hier zweifellos das brennendste Feld. Etwas weniger aufregend, jedoch aufregend genug wäre es, sich mit dem Canceln von russischen Autoren zu beschäftigen. Was heißt Canceling? Wie gerecht ist es? Der Fall Teichtmeister wird am Rande besprochen.
Eine Teilnehmerin sieht in aktuellen Entwicklung eine Gefahr für die Demokratie. Es gebe keinen demokratischen Diskurs zu Sprachverboten und -geboten. Wokeness wird von einer jungen Generation aus meist künstlerischen Bereichen vehement gefordert. Von der Bevölkerungsmehrheit wird sie dagegen als abgehobene Spielwiese einer arroganten Elite empfunden. Das fördert eine Spaltung der Gesellschaft und eine Verstärkung des Rechtsrucks. Es widerspreche dem demokratischen Verständnis und dem gewünschten Zusammenhalt, dass der Gebrauch der Sprache in einzelnen Gesellschaftsschichten stark auseinander zu klaffen beginne. Rechte seien nicht teilbar. Die „ganz normalen Menschen“, die ja auch Wissenschaft und Museen bezahlen, hätten ebenso ein Recht auf ihre Sprache. Und genauso gehe es um die Rechte der Autorinnen und Autoren.
Ein Kollege fügt an, dass es bei diesen Überschreibungen nicht nur um Autorenrechte gehe, sondern auch um Textzusammenhänge. Wenn z.B. das Stück „Volksfeind“ in „Volksfeindin“ umbenannt werde, so ist das ein anderes Stück. Früher gab es kanonisches Wissen. Das ist vorbei. Er arbeitet an Hand seiner Berufsbiographie die Generationsentwicklung heraus, einen Generationsbruch, der sich vor allem in der Veränderung der Sprache bzw. des Sprachgebrauchs manifestiert. Die Herangehensweise an Themen, an Inhalte hat sich verändert. Es entstehen Denkformen, die neu sind. Er halte es für richtig, wenn man Symptome anschaut und herausgreift. Antisemitismus wolle er aber sicher nicht anrühren.
Das Thema Sozialismus sei inzwischen erlahmt. Die Versprechen sinnvoller Arbeit und Gleichstellung wurden nicht eingelöst. Korrupte Seilschaften werden als Ursache gesehen. Es wird auf die Explosion der technischen Möglichkeiten und die Gefahr der Manipulation durch sie hingewiesen. Was macht das mit uns? Was macht es mit der Gesellschaft? Da sei etwas im Gange. Die junge Generation hat noch viel weniger Möglichkeit, diese Manipulation zu erkennen.
Konkrete Vorschläge:
Ziel seien Diskussionen zu Themen, bei denen nicht sofort die roten Linien gezogen werden.
Einig ist sich die Gruppe darüber, dass es problematisch sei, ohne Bezug auf das Bestehende ganz Neues suchen zu wollen, kompromisslos ganz neu zu beginnen. Das hat sich bei manchen Avantgarden als Gefahr gezeigt und vor allem beim Faschismus.
Aus einem Gespräch hat sich ein gewisses Interesse von Friedrich Stadler, Institut Wiener Kreis, für eine gemeinsame Veranstaltung gezeigt. Eine Kollegin dazu: Der Wiener Kreis mit seinem radikalen Positivismus habe nirgendwohin geführt. Er sei damit in eine Sackgasse geraten. Eine andere Kollegin stellt fest, dass durch solche Diskussionsformate wie die Untersuchung der Unterschiedlichkeit von Wiener Kreis – Wiener Gruppe im kürzlichen Jour Fixe der IKT neue Erkenntnisse erreicht würden, zu denen man sonst nicht gekommen wäre.
Bernadette Reinhold hat ihr Interesse an der Gesprächsgruppe „Offene Sprache“ bekundet. Allgemeine Zustimmung, sie zum nächsten Termin einzuladen.
Auch der Vorschlag, Robert Pfaller anzusprechen, ob / wie die Wokeness bei seinen Studierenden ausgeprägt ist, wird begrüßt.
Viertes Treffen am 8. Mai 2023.
Die Gruppe traf sich wieder in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur um die Diskussion des Phänomens „Cancel Culture“ fortzusetzen. Wieder, wie auch schon nach dem ersten und zweiten Treffen waren Artikel aus Zeitungen bzw. Links dazu ausgetauscht worden. Die Erstellung eines Readers wird angedacht.
Ausstellungen problematisieren nun Kunst, statt sie zu zeigen.
Zu Beginn bezieht sich die Diskussion auf eine Kritik der NZZ zu einer Ausstellung des Metropolitan Museums of Art in NYC, die uns eine Kollegin kopiert hat. Es geht dabei um die Marmorbüste „La Negresse“ des französischen Bildhauers Jean-Baptiste Carpeaux aus dem Jahr 1893, die immer als ein Werk gegen die Sklaverei verstanden wurde. Das Museum hatte die Skulptur 2019 gekauft und schon die Ankündigung warnte künftige Betrachter vor dem Patriarchat und weißen Privilegien. Es entstehe ein Macht-Ungleichgewicht, „wenn ein weißer männlicher Künstler den Körper einer schwarzen Frau in ein Emblem der Versklavung verwandelt.“ Die Büste sei „eine verstörende Fantasie der ästhetisierten Knechtschaft – die Verwandlung von menschlichem Gemetzel in ein erotisch aufgeladenes Drama“ heißt es nun.
Aus unseren Reaktionen:
Man versteht das Anliegen, aber es bleibt ein Unbehagen. Es gibt kein Gefühl mehr für das, was Kunst ist. Schick, In-Sein äußert sich in dieser Richtung.
Diese Skulptur ist ja gegen die Sklaverei. Das dreht man jetzt um. Die Zeit ändert die Richtung im Diskurs. Man hat ein Kunstwerk, stellt es aus, schreibt aber dazu: Das ist nicht gut. Warum stellt man es dann aus?
Dass man nur gute Kunst in Ausstellungen zeigt, ist ja auch illusorisch.
Eine Kollegin bringt ein weiteres Beispiel aus „Artist meets Archive“ (Vom Zeigen und Nicht Zeigen) https://www.artbooksonline.eu/art-51537 über ein kuratorisches Projekt einer ethnografischen Fotosammlung. Eine Künstlerin hat dazu eine Ausstellung gemacht mit geschlossenen Boxen. Wissenschaftler haben das gesichtet und Statements dazu verfasst, die aufgenommen wurden. Die können abgehört werden statt des Zeigens der Bilder. Zugleich liest man aber am Gang: „Alle Archive müssen öffentlich sein“. Zugleich gibt es den Beschluss: „Alle Bilder müssen zurückgegeben werden“. Das alles steht im Gegensatz miteinander.
Dazu kommt die Frage: Wer hat die Legitimation? Wer gibt den Wissenschaftler:innen die Legitimation, die Bilder anzuschauen, die das „Publikum“ nicht anschauen darf? Das ist ja erst recht wieder eine paternalistische Situation der Ungleichheit.
Es wird unterstellt, wenn man heute darauf blickt, wiederhole man eine diskriminierende Schau. Aber es ist sinnlos, zu tun als wäre das nicht gewesen. Es gehe ja darum, kritisches Bewusstsein zu entwickeln. Dieses Bewusstsein muss man entwickeln und einüben. Das geht nicht durch Bereinigen.
Wissenschaftskommunikation.
Wie gehen wir mit unseren Wissenschaftstraditionen um? Ein Kollege hat sich einige Zeit aus Interesse mit Kreuzzügen befasst. Und später hat er eine völlige Umkehrung der Geschichte durch einen libanesischen Wissenschaftler gelesen. Wie geht man damit um? Was hat sich im Laufe der Jahrhunderte geändert? Auch diese Änderung braucht Worte.
Lösung: Beide Positionen zu Kreuzzügen zeigen.
Kunst.
Wissenschaft – ist klar. Aber Kunst – Kunst hat ja mehrere Qualitäten. Jetzt wird eben nur ein Aspekt gesehen.
Todestag Picasso. Die Zeit hat sich geändert.
Kunst wurde uns in der Schule über den Inhalt gelehrt. Absolute Überfrachtung der Kunst mit ganz anderen Inhalten.
In der Zeit des Nationalsozialismus gab es die Ausstellung „Entartete Kunst“. Nazi-Bonzen sammelten aber selbst diese Kunst.
Wir leben einen besseren Zugang zu Kunst.
Kunstwerke sind auch lesbar.
Kunst vs. Wissenschaft. Bei Kunst geht es ja um etwas anderes, nämlich ob und wie es den Betrachter bewegt.
Kunsttheorie und Kunstdiskurse haben sich verändert. Die künstlerischen Akademien sind Universitäten der Künste geworden. Dadurch können an ihnen auch FWF-Gelder lukriert werden. Künstlerische Forschung nimmt einen breiten Platz ein. Das Meisterklassen-Studium ist weitgehend abgeschafft.
Der Widerspruch zwischen künstlerischer Forschung einerseits und der Ausrichtung der Kunst auf den Markt andererseits wird angesprochen.
Bei der Recherchekunst kommt das Moralisieren rein.
Eine Kollegin erzählt von einem Pasticcio, in dem sich der Moderator entschuldigt, dass er zuletzt Lewis Carroll zitiert hat, aber ohne dazu zu sagen, dass es auch pädophile Neigungen gab.-
Die Künstlergruppe Rimini Protokoll war von soziologischem Antrieb bewegt. Das interessierte ein elitäres Publikum.
Bildungsbürgertum muss man sich auch leisten können.
Wie kommen wir zum differenzierten Diskurs?
Der Fall Koeppen – N-Wort. Eine Lehrerin sammelt Unterschriften gegen Wolfgang Koeppens “Tauben im Gras” von 1951 – der Roman sei “offensiv rassistisch, sexistisch und antisemitisch” https://www.derstandard.at/story/2000145197470/rassismuskritik-oder-selbst-rassistisch-protest-gegen-schullektuere . Man will mit Schülern nicht mehr diskutieren, sondern vorselektieren.
Die Grenzen des Sagbaren.
Wie wird die Mitte konstruiert? Braucht es dazu ein Feindbild? Offenbar braucht es dazu ein Feindbild. Das war im Kalten Krieg der Kommunismus. Ist das jetzt Wokeness? Oder mangelnde Wokeness?
Durch die Medien bekommt alles eine ganz andere Öffentlichkeit. Alles muss erklärt werden. Aber alles auch wieder nicht. Wer erklärt z.B. Ego Shooter-Spiele? Wer erklärt Kitsch?
Immer häufiger ist dieser Paternalismus da: „So habt Ihr das zu sehen.“ …Wie kann man einen kritischen Diskurs anstoßen ohne zu bevormunden?
Thema Denkmäler: Das Lueger-Denkmal. – Denkmäler sind zum Denken da.
Schwierigkeit ist immer die Grenzziehung. Es ist ja gut, dass die belasteten Straßennamen weg sind. Wo wird die Grenze gezogen? Hitler ja, Himmler nein?
Es geht doch um die Betroffenheit der Beteiligten, die Relevanz in der Zeit.
Nach 1945 ist die Entnazifizierung entschieden worden.
Ja, das haben die Alliierten damals gemacht. Und als sie weg waren…….
Das kennen wird aber schon seit Hatschepsut. Es ist immer die Frage, wer die Deutungsmacht hat. Es geht darum, historisches Bewusstsein wieder hineinzubringen.
Pronouns
Zum Thema Pronouns gibt es unterschiedliche Ansichten. Eine Kollegin hat ein Wahlplakat zu den ÖH-Wahlen gesehen, auf dem für die Verwendung von Pronouns geworben wird. Sie hat der GRAS geschrieben und nach Argumenten dafür gefragt, aber keine Antwort erhalten. Es stört sie vor allem daran, dass kritiklos eine Attitüde aus den USA übernommen werde. Das ist dann nicht kulturelle Aneignung? Von Freunden aus den USA hört sie, dort werde sehr kritisiert, dass der Gebrauch von Pronouns etwa auch in Firmen erwartet /gefordert werde, aber es unklar sei, von wem das ausgehe und wozu.
Eine andere Kollegin fand, dass Pronouns beim unklaren Vornamen eines neuen wissenschaftlichen Mitarbeiters zur Verdeutlichung beigetragen haben.
Eine Literaturwissenschaftlerin und ein Germanist finden es als Sprachspiel und haben dafür viel Verständnis.
Gesellschaftliche Aspekte.
Vorschlag, Sighard Neckel um seine Ansicht als Soziologe zum Thema zu bitten. Er hat zu den Kosten der Klimakatastrophe referiert und dazu, wie wichtig er es sieht, Gemeinsamkeit herzustellen.
Es wird einen als Kulturkampf maskierten Verteilungskampf geben. Was in der Öffentlichkeit spielen wird, wird ein Kulturkampf sein.
Canceling ist ein Symptom. Die Gesellschaft wird sich ändern.
Über Gendern gibt es in Ungarn riesigen Diskussionen, hört man. Ein anderer Kollege hat die Information, dass Genderstudies in Budapest abgedreht wurden.
Fälle von Frauendiskriminierung im Arbeitsleben, auch im universitären. Die Veränderung der Sprache hat keineswegs eine Veränderung des ökonomischen Denkens zur Folge gehabt.
Manche jungen Leute sind sehr woke.
Durch Öffnen der Gesprächssituation zwischen woken und wokeness-kritischen Gruppen könnte mehr wechselseitiges Verständnis erreicht werden.
Frage: Was können wir tun – die Intellektuellen? Es gibt mehr differenzierte Positionen als zu Beginn unserer Gespräche. Der Verdacht, dass man rechtsgerichtet ist, wenn man Wokeness kritisch sieht, ist noch immer da. Wie tun wir weiter? Wir haben einander nun alles vom Herzen geredet.
Das ist nicht nichts. – Was ist die Form, die wir da anstreben? Vorschlag: Jeder von uns mit seinem Thema? Denken wir eine Tagung an? Ein Symposium? Wir müssten einen Ort finden, der nicht punziert ist, und eine differenzierte Diskussion anstoßen.
Differenzierte Streitkultur vs. Canceling.
Beschluss, Andersdenkende von der Akademie Bildende Kunst kontaktieren für offenes Gespräch. Interesse an einer Gleichstellungsbeauftragten. Auch Daphne Hruby soll angefragt werden, die seinerzeit mit einer Kollegin ein Interview zu diesem Thema gemacht hat..
Fünftes Treffen am 26. Juni 2023.
Diesmal traf sich die Gruppe aus dem ViennAvant-Netzwerk in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur zu einem weiteren Gespräch zu Wokeness und „Cancel Culture“, diesmal erweitert um jüngere Vertreter:innen aus unterschiedlichen Disziplinen und Universitäten:
Doris Guth, Akademie der Bildenden Künste
Patrick Bau, Institut für Soziologie der Universität Wien
Nastasja Penzar, Institut für Sprachkunst der Universität für Angewandte Kunst.
Die neu hinzugekommenen Teilnehmer:innen positionierten sich in der Runde mit Argumenten für ein wokes Weltbild. Erstmals haben wir uns also nicht nur mit unseren kritischen Überlegungen zu dieser Entwicklung beschäftigt, sondern haben auch Positionen diskutiert, die zu den unseren kontroversiell sind. Unser Ziel ist ja, bei aller Klarheit des Aufzeigens von Problemen, die sich bei Wokeness auftun, doch zu amikalen und einverständlichen Lösungen zu kommen. Nach dieser ersten Begegnung sieht es aber nicht so aus, als ob auch die woke Seite offen und unseren Bedenken gegenüber aufgeschlossen wäre. Hier eine Abfolge von Zitaten aus der Diskussion. Im Herbst wollen wir das Gespräch jedenfalls fortsetzen.
• Auf den Vorschlag, jede/r möge seine eigene Forschungsfrage einbringen, empfindet eine der woken Kolleginnen schon die Frage „Wer fängt an?“ als Szenario einer Dominanz, da der Beginnende üblicherweise ein Mann sei. Sie selbst empfinde sich als Lehrende privilegiert. Ihr nicht-deutscher Name würde aber bedeuten, stigmatisiert zu sein.
• Das ist ja die Frage der Repräsentation. Ziel ist, dass man wieder lernt, individuell zu sprechen.
• Wenn es sich um marginalisierte Gruppen handelt, ist die Bezugnahme total wichtig, weil Menschen jemanden sofort als Repräsentant:in einer bestimmten Gruppe wahrnehmen. Beispiel: Sie hatte als prämierte Literatin eine Lesung. Alle Anwesenden hatten deutsche Nachnamen. Alle Prämierten hatten keine deutschen Nachnamen.
• Ist es Stigmatisierung, wenn ich als Repräsentantin einer stigmatisierten Gruppe auftrete?…
• Das Argument kenn ich: „Das sagst du ja nur, weil du ein Deutscher bist“, „Das sagst du nur, weil du ein Mann bist.“
• Wir müssen das Private vom öffentlichen Raum trennen.
• Die Verlage machen Labeling mit migrantischem Background.
• Es gibt ja viele Stigmatisierungen. Jemand Weißer kann aus vielen anderen Gründen stigmatisiert sein kann.
• Da wirkt das Intersektionelle.
• Es gibt auch diese Hürde: „Du bist ein Mann, du verstehst das nicht“.
• Das ist der Punkt: Dass man sich nicht mehr traut, zu sagen, was man sagen will, eine Meinung zu haben, die nicht konform ist. Die Journalistin Daphne Hruby hat erzählt, dass sie eine Serie über Konformität machen wird. Sie hat Interesse, an unserer Gruppe teilzunehmen, nur war ihr der heutige Termin nicht möglich.
• Wokeness hat autoritäre Züge, Antiwokeness hat sie auch.
• Die marginalisierten Gruppen haben ein starkes Bedürfnis nachzuholen. Sie hatten so lange keine Chance, zu sprechen.
• Eine Kollegin bringt Gegenbeispiele aus den 70erJahren bis 2000, wo im zivilgesellschaftlichen und im öffentlichen Raum Vertreter:innen diverser Gruppen sehr frei mitsammen diskutierten.
• Die Lehrende sind herausgefordert von den Jungen. Auch an der Akademie gibt es Rassismus. Privilegierte Gruppen sind in der Überzahl. Das Institut diskreditiert Transpersonen. Es passiert immer wieder, dass eine Transperson als Mann angesprochen wird. Es ist eine enorme Herausforderung, mit allen wertschätzend umzugehen. Es ist wichtig, den Fokus auf gesellschaftsverändernde Prozesse zu legen. Wo kann ich sonst lernen, meiner Privilegien bewusst zu werden?
• Wir sprechen ja von Missbräuchlichem. Beispiel einer schwarzen Künstlerin, die dafür plädierte, dass ein Bild, mit dem eine weiße Künstlerin einen schweren rassistischen Übergriff thematisiert hatte, abgehängt und zerstört werden müsse. Das sei dann zwar nicht passiert, die schwarze Künstlerin hatte aber mit dieser Intervention einen riesigen finanziellen Erfolg.
• Transpersonen werden beschimpft
• 70er-Jahre waren viel offener. Die Leichtigkeit und Unbekümmertheit dieser Jahre des Aufbruchs wird in der woken Szene vermisst.
• Theater. Othello soll nur von einem Schwarzen gespielt werden. Eine junge Schauspielerin hat es als Zumutung empfunden, Medea spielen zu sollen, wo sie doch nicht Griechin ist. In einer Art Selbstzensur fand sie es „unpassend“ diese Rolle zugeteilt zu bekommen. Wenn sich diese eingeschränkte Sicht durchsetzt, wird Theater ad absurdum geführt: Schauspielen ist per se das Darstellen fremder, im eigenen Ich nicht manifester Zugehörigkeiten, Eigenschaften, Verhaltensmuster auf der Bühne : Ich bin nicht ich, sondern ein/e andere/r.
• Es gibt ja die Theorie, dass in jedem Menschen alles (subkutan) angelegt ist und sich herausbilden kann, oder eben nicht (abhängig von Erziehung, Charakter, sozialer Umgebung …) Es gibt Interviews mit Schauspielern, die sagen, dass sie bei der Rollengestaltung oft in sich Verborgenes entdecken, herausholen können. In Bezug auf Schauspiel und Theater zeigt diese Diskussion die völlige Unkenntnis des Gegenstandes. Ich vermute das ist auch der Grund, warum man von dieser Seite (Theaterschaffende) recht wenig / bis nichts zur Debatte hört. Theater ist ja genuin die Gestaltung von Rollen, also einer anderen Identität.
• „Genuin“ finde ich problematisch. Man darf auch im Theater nicht alles sagen.
• Zumal das deutsche Theater eine sehr rassistische Geschichte hat.
• Rollenspiel ist per se etwas, was man nicht ist.
• Es gibt aber auch eine Reihe von Rollen, die nicht von denen gespielt werden, die dafür da sind. • Strukturell gibt es eine Menge von Rollen
• Das ist das Problem der Identität.
• Auswirkungen der Leistungsgesellschaft. Die Gerechtigkeit kann nicht mit der Sprache als isoliertem Tool hergestellt werden.
• Das Argument Leistungsgesellschaft wird immer gegen Frauen in Leitungspositionen verwendet.
• Wie hoch ist der weibliche Prozentsatz an Leitungspositionen an der Akademie der Bildenden Künste? – Jetzt 53%….
• In der linken Bubble des Kollegen wird Canceln sehr inflationär verwendet. Z.B. Dieses Lokal, dieses und jenes muss man canceln, weil das und das passiert ist. Es wird wenig auf die Menschen zugegangen. „Wir geben nicht bei, wir canceln.“ Das passiert auch bei Kleinigkeiten.
• Offenheit führt zu Offenheit.
• Offenheit ist ja das Gegenteil von Canceln.
• Es ging um das Alter meiner Texte. Bei anderen ging es um Betroffenheit.
• Innerhalb der eigenen Bubble zeigt man mehr Verständnis. Aber nach außen hin ist man unnachsichtig.
• Die Studierenden kritisieren sehr stark. Ich übe auch Kritik, aber mit sehr viel Achtsamkeit und Wertschätzung. Ein psychoanalytischer Vortrag wäre gut. Was tut das mit mir? Auf welcher Ebene agiere ich, damit ich nicht einen Sekundärgewinn von meiner Kritik habe?
• Eine der neuen Kolleginnen hat das Buch CANCELN mitgebracht und zeigt es. Die ursprüngliche Gruppe kennt es jedoch, weil systematisch Literatur und Literaturhinweise gesammelt werden.
• Canceln durchgestrichen ist ein neues graphisches Element.
• Es bleibt in der Diskussion, es verschwindet nicht.
• Man macht gern einen Skandal, wenn die Kritiken schlecht waren.
• Es ist ein Machtmittel
• Das Überzogene bringt erst die Abwehr.
• Dabei entsteht Profit.
• Die Gesellschaft wird nun auf Opfer von Dominanz fokussiert.
• Anliegen, dass eine weiße Künstlerin ein schwarzes Anliegen zeigt.
• Es war immer mein Anspruch, die die Kunst im Prinzip frei ist. Das habe ich verteidigt. Und es fällt mir schwer, es jetzt nicht mehr zu verteidigen (Foucault). Da stehen grundsätzliche Konzeptionen gegeneinander und man soll nicht so tun, als wäre es nicht so.
• Wenn ein Student einen weiblichen Akt malt, frag ich ihn: Was malst Du da? Museen – erotische Bilder der Hl. Magdalena……
• So mein ich‘s nicht. Aber mir wird es unheimlich, wenn ich bei allem fragen müsste, ob das oder jenes jetzt erlaubt ist.
• Kontextualisierung in der Kunstgeschichte, natürlich. Aber die Kunst kommt ja aus der Künstlerin / dem Künstler, deren Vorstellungen, Träumen, Wünschen, Projektionen.
• Man kann nicht davon ausgehen, dass Kunst aus ihm kommt. Überholter Begriff des Künstlergenies.
• Was ist Kunst?
• Ich bin weit davon entfernt zu glauben, dass Kunst jemals frei war. Zu keiner Zeit. Aber die Kampfbegriffe der Wokeness gehen mir irrsinnig auf die Nerven. Ist woke nicht ein Begriff, der schon abgetan ist?
• In Köln haben sich Studenten als woke bezeichnet und wollten deshalb einen Text nicht lesen.
• Woke wird als Kampfbegriff aufgebauscht. Einerseits erlangen Gruppen Sichtbarkeit, die lange nicht möglich war. Dagegen ist die Verlagswelt wahnsinnig konservativ. Hier sind Entscheidungsstrukturen und Begriffe nicht sichtbar – z.B. im Hanser-Verlag….
• Im ORF wurde abgestimmt, mit welcher Methode jetzt gegendert wird.
• Es ist ein problematisches Thema.
• Ich sehe es nicht so, dass die überbordende Wokeness erst Gegenwind erzeugt.
• Prozesse brauchen Zeit.
• Die Studierenden treiben uns an. Kunstunis sind die Speerspitze.
• An meiner Uni muss man meist gendern. An anderen Unis gendert niemand. Z.B. in der Nawi. Studierende, die dort gendern, müssen sich dafür rechtfertigen.
• In Jus gendert auch niemand
• Das zeigt, dass wir in einer Gesellschaft leben, die sehr divers ist.
• Canceln geht oft von Gruppen aus.
• Machtverhältnisse haben sich umgedreht
• Woke ist: „Jawohl, wir haben die Macht und die nützen wir auch aus“. Auch wenn Adrian Daub sagt: Erstens gibt es kein Canceln und zweitens ist es eh gut.
• Macht heißt ja auch Verantwortung übernehmen. Nimmt diese Generation jetzt Verantwortung?
• Es ist kein Generationskonflikt
• Das wichtigste Thema der Communities ist nun Trans
• Aber ich muss mich ja nicht um alle Interessen aller Communities kümmern.
• Nochmal wird die Frage Öffentlich vs. Privat aufgeworfen. Was bedeutet noch privat, wenn jeder sexuelle Aspekt von jedem Individuum öffentlich sein soll?
• Privates gibt es nicht mehr.
• Das Private ist politisch.
• Es ist auch politisch.
Sechstes Treffen am 23. Oktober 2023.
Am 23. Oktober 2023, 15:30 Uhr trafen sich sechs aus der Gruppe des ViennAvant-Netzwerks, die vor einem Jahr Gespräche zu Wokeness und „Cancel Culture“ begonnen hatte, – Eva Badura, Elisabeth Großegger, Christoph Leitgeb, Manfred Müller, Gisela Steinlechner und Helga Köcher – wieder zu einer Fortsetzung, die jedoch die letzte Runde werden sollte. Überraschend für Helga Köcher, die auf Anregung von Gisela Steinlechner diese Gesprächsreihe in die Wege geleitet hatte. Manfred Müller hatte sie in der von ihm geleiteten OGL gehostet und hatte auch an den Gesprächen regelmäßig teilgenommen.
Stichworte
• Es ist ein heißes Thema, ist noch heißer geworden als zu Beginn unserer Gespräche. Die Jugend ist woke, beobachte ich. Viel wird hinter vorgehaltener Hand besprochen. Ich hab einen exzellenten Artikel von Nida-Rümelin gelesen. Ein Symposium aber auf diesem Level sehe ich nicht.
• Es fehlt nicht an nuancierten Positionen. Das Thema ist am Tisch. Bei den Jungen geht’s um verschiedene Richtungen. Es ging aber um Praxis…. Bei mir hat sich auch einiges geändert. Auch hier. Ich habe andere Positionen kennen gelernt. Die Frage bleibt für mich: Wie kann sich was ergeben, was nicht im Sinne von Zensur funktioniert?
• Um größere Öffentlichkeit zu erreichen müssten bedeutende Sprecher eingeladen werden. Dafür ist die OGL aber zu klein. Und Leute wie Nida-Rümelin kämen auch nicht gratis. Die Geschichte ist für mich dann spannend, wenn sie über Einzelmeinungen hinausgeht, wenn es um die Sprache geht. Warum haben wir diese Sprache nicht????? – Die Medien nehmen aus einem Interview eine Schlagzeile als Aufmacher heraus, die ihnen gerade passt, die sie hochmachen wollen.
• Ich sehe es auch als Prozess.
• Viel liegt an der medialen Situation. Die Politik hat den Drang, mehrheitsfähig zu sein.
• Diejenigen, die eine andere Meinung haben, wollen nicht diskutieren.
• Ich denke, wir sollten hier einen Punkt machen und das Thema allenfalls wieder aufnehmen, wenn es einen konkreten Fall gibt.
• Ich möchte nicht, dass wir die Gespräche aufgeben. Aus meiner Sicht ist diese Runde sehr wichtig. Dieses Projekt könnte ein Modell sein, zu versuchen gegensätzliche Meinungen zusammenzubringen.
• Ich sehe mich als Berta von Suttner. Ich würde furchtbar gern über die Ringstraße gehen mit einem Transparent „Die Waffen nieder“.
• Längere Diskussion zu Politik – Russland-Ukraine, Israel-Palästina… Rolle der Diplomatie…
• Was wir tun können ist, zu unterstützen, wo wir können.
• Problem, dass die Europäer keine eigene Haltung haben. – Diskussion zu Van der Leyen – Symbolpolitik.
• Es gibt die offizielle Ebene – und unterhalb dieser versucht die zweite Ebene, das wieder zu richten. Ich beziehe mich auf einen Vortrag von Zizek. Da kommt schon was an. Wenn es sichtbar macht, wo wir jetzt stehen, dass wir mit anderen Meinungen nicht mehr umgehen können, dann ergibt sich wie von selbst eine andere Haltung.
• Der große Unterschied ist, dass es nicht mehr um die Sache geht.
• Die Jungen verstehen ihre Position schon politisch.
• Eine Kollegin erzählt vom Projekt Matilda. Deren Position ist: Otto Muehl muss ausgelöscht werden als Künstler. Nur über seine Verbrechen darf gesprochen werden.
• Man sieht, da kommt man nicht mehr weiter.
• Ich sehe Mind Expanding als Ergebnis.
• Ich sehe diesen Punkt, an dem wir mit unseren Gesprächen nun stehen, als sehr wichtig. Wenn wir sie jetzt abbrechen, empfinde ich es als Scheitern unserer Bemühungen, als sinnlos.
• Nein, unsere Gesprächsreihe sehe ich nicht als sinnlos. —- Aber selbst wenn wir einen kleinen Workshop auf die Beine stellen: Was wäre damit gewonnen? Ein paar würden sich bestätigt fühlen, andere würden sagen: „Was ist mit Euch los?“ Wie die Lage ist, ist das nicht auf einer Gesprächsebene zu lösen, sondern muss sich abschleifen. Es ist ja viel am Tisch.
Hermann Schlösser
Wissensbeflissen
Fünf Glossen zum Thema „Offene Sprache“
1.
Kein Mensch hat sich jemals seine Lebenszeit ausgesucht. Über diese Wahrheit wurde in der existenzialistischen Philosophie meiner Jugendjahre bedeutungsschwanger nachgedacht: Geworfensein, Unbehaustheit und so weiter – Begriffe, die heute wie ein fernes Echo aus dem Religions- und Ethikunterricht der 60er Jahre herübertönen. Aber wird das Pathos von einst den Aktivisten und Aktivistinnen von heute mehr entlocken als ein verächtliches Stöhnen? „Warum könnt Ihr Alten nicht einfach für Klimagerechtigkeit, Postkolonialismus und Diversity kämpfen und fertig? Es ist fünf vor zwölf und Ihr leistet Euch noch den Luxus einer individuellen Existenz, die den Erinnerungen an früher mehr gehorcht als den Notwendigkeiten der Gegenwart! Die Welt steht in Flammen und was macht Ihr? Ihr sitzt in Euren Wohnzimmern und lest und schreibt!“
„Aber dort saßen Musil, Joyce und Kafka auch, während die Welt in Flammen stand“.
„Oh Mann, das ist echt frustrierend. Die Zeit stellt Riesenaufgaben, und die Kulturintellektuellen sind damit beschäftigt, Vorbildern nachzuleben, die vor hundert Jahren aktuell waren. Merkt Ihr denn gar nicht, dass wir 2024 leben und dass Eure Uhren nachgehen?“
Auf diese Kritik sagt man dann, nach einigem Nachdenken: „Doch, das merke ich schon. Aber ich habe mir die Zeit, in der ich lebe, nicht ausgedacht, pardon, ich wollte sagen: ausgesucht. Ich verstehe sie so wenig wie sie mich. Das macht mich übrigens nicht zum Einzel- oder Sonderfall. Ich glaube, dass es vielen älteren Menschen so geht wie mir. Aber ja, ich werde mich bemühen, etwas mehr über das 21. Jahrhundert in Erfahrung zu bringen.“
2.
Am 28. November 2022 traf zum ersten Mal eine Gesprächsrunde zusammen, die das Thema „Offene Sprache“ erörtern wollte. Die Anwesenden dachten damals an ein Symposium, das die fragwürdigen Entwicklungen der derzeitigen Debattenkultur kritisch untersuchen sollte. Die Sinnhaftigkeit der „political correctness“ wurde dabei nicht grundsätzlich in Frage gestellt, wohl aber deren Zuspitzungen:
Diskussionsverweigerung
Sprachregelungen
Aktionen gegen Personen, die als „umstritten“ eingestuft werden.
Verengung der Themenbereiche, die als akzeptabel gelten.
Verdeckte Konkurrenzkämpfe unter dem Vorwand der „wokeness“.
Im Lauf der nächsten Sitzungen wurde dieses Konzept allerdings immer unklarer, weil fast hinter jeder dieser Diagnosen Fragezeichen auftauchten. Gibt es die Cancel Culture überhaupt? Oder ist sie nur ein Konstrukt der Gegner all der tiefgreifenden Veränderungen, die sich zurzeit ereignen? Erträgt die bedrohte Mehrheitsgesellschaft einfach nicht, wenn ihre Werte radikal in Frage gestellt werden und empfindet sie jede Kritik als Zensur? Das behauptet Adrian Daub in seinem Buch „Cancel Culture Transfer“. Hat er recht? Oder besteht nicht doch eine merkliche Verengung dessen, was in einer öffentlichen Debatte sagbar ist und was nicht? Was hat es zu bedeuten, dass ein so renommierter Publizist wie Ian Buruma seine Stelle als Chefredakteur der „New York Review of Books“ verlieren kann, weil in seiner Zeitschrift der Erfahrungsbericht eines wegen sexualisierter Gewalt angeklagten Mannes erschienen ist, der „von einem ordentlichen Strafgericht entlastet worden war, nicht aber vom Gerichtshof der öffentlichen Moral“? (vgl. René Pfister: „Ein falsches Wort“, S.27). Wie viele dieser Geschichten haben sich tatsächlich ereignet, wie viele sind medial aufgebauscht, wie viele sind womöglich tendenziös erfunden? Und allgemeiner gefragt: Wie kann man überhaupt herausfinden, was ein Faktum und was ein medialer Hype ist?
Am 26. Juni 2023 kam es bei einem dieser regelmäßigen Treffen zu einer Begegnung mit drei Menschen, von denen zwei als Frauen, einer als Mann „gelesen wurden“ (wie sie selbst am Anfang des Gesprächs ausdrückten, als ob sie Bücher wären oder sein wollten). Besonders markant trat eine Autorin auf, die in sanftem Ton, aber nachdrücklich selbstgewiss berichtete, sie habe Kurzprosa und einen Roman veröffentlicht und sei zugleich als senior lecturer an der Wiener Universität für Angewandte Kunst tätig. Andererseits betonte die Rednerin, als Frau mit Migrationshintergrund sei sie in Österreich „strukturell diskriminiert“ – und zwar unabhängig davon, was sie beruflich erreiche und auch unabhängig davon, ob die gerade Anwesenden sie respektieren oder nicht.
Einer der Anwesenden war ich. Und ich hatte das Gefühl, die offenbar erfolgreiche junge Autorin nutze den Hinweis auf ihr Diskriminiertsein auch als karriereförderndes Asset. Damit stünde sie nicht allein, denn im aktuellen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb scheint es auf irgendeine schwer zu fassende Weise von Nutzen zu sein, sich als Opfer einer Benachteiligung zu präsentieren. Vom Sport abgesehen, zeigen sich Erfolgreiche nicht mehr gern als die Sieger oder Siegerinnen, die sie im Vergleich zu den weniger Bevorzugten doch sind.
Nun hätte ich diese Bedenklichkeit ja mit der Autorin besprechen können. Das aber wagte ich nicht, aus Furcht, als Rassist und Sexist „gelesen“ zu werden, der ich nicht sein möchte – aber vielleicht doch wäre, wenn ich die Sprecherposition einer jungen Frau mit migrantischen Wurzeln kritisch hinterfragte? Wie sie auf meine Einwände reagiert hätte, kann ich nicht wissen, denn ich habe ihr meine Frage ja nicht gestellt. Vielleicht wäre das Gespräch ganz anders gelaufen, als ich unterstellte. Aber der Versuch unterblieb, was zunächst einmal nur beweist, dass die erwünschte „offene Sprache“ im Rahmen dieser Begegnung nicht gesprochen wurde.
Aus dieser Begegnung nahm ich als Fazit lediglich mit, dass „die Betroffenen“ (also die Opfer der strukturellen Diskriminierung) in jeden Fall gehört werden müssen, dass sie ein Mitspracherecht haben bei allen Themen, die sie betreffen. Welche das sind, bestimmen sie selbst, und nicht die Mehrheitsgesellschaft. So weit, so klar. Aber hinter dieser Klarheit verbergen sich Probleme und Bedenken. Einige davon möchte ich hier ansprechen, ohne zu ihrer Lösung allzu viel beitragen zu können oder zu wollen. Denn warum sollte gerade ich eine Lösungskompetenz in diesen Fragen haben?
3.
Da haben wir jahrzehntelang von Michel Foucault und seinen Epigonen gelernt, die Frage „wer spricht?“ verliere sich im Rauschen des Diskurses, und der Begriff des Autors, wenn nicht gar des Menschen, zerrinne wie eine Fußspur auf meerumspültem Strand. Jetzt flüstert uns ein anderer Zeitgeist zu, dass es gar nicht so sehr darauf ankomme, was gesagt oder geschrieben werde, sondern dass vor allem die Sprecherposition geklärt werden müsse: Identity matters, wir müssen wissen, wer spricht, bevor wir glauben können, was gesagt wird. Seitdem hört man ständig Sätze, mit denen Kulturschaffende sich und ihre Arbeit selbst in einem diskursiven Kontext verorten. Sie beginnen oft mit derselben Floskel:
Es war mir wichtig, die Umgebung des Autors zu zeigen, sein Netzwerk.
Es war mir wichtig, die Frauen als starke, selbstermächtigte Personen darzustellen.
Mir war wichtig, dass meine Arbeit als Beitrag zur Änderung patriarchalischer Machtverhältnisse verstanden wird.
Mir war wichtig, den unbewussten Kolonialismus westlicher Narrative zu analysieren.
Ein zweites Element der Selbstdarstellung besteht in der Formel Ich als . . .. Mit ihrer Hilfe kann entweder die wissenschaftliche Qualifikation annonciert werden Ich als Genderlinguistin, Ich als Kognitionspsychologe, oder die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe: Ich als Migrant:in der dritten Generation, Ich als Kind einer Täterfamilie, oder kokett: Ich als weißer alter Mann.
Diese Positionierungen dienen in unserem hoch kompetitiven Kultur- und Wissenschaftsbetrieb immer auch der Selbstvermarktung, tragen jedoch zugleich zur Klärung der eigenen Position bei: Meine Aussagen erheben nicht den Anspruch, objektiv wahr zu sein. Sie reflektieren meine Sicht, die allerdings auch nicht rein subjektiv ist, da ich nicht als Individuum gehört werden will, sondern als Repräsentant:in einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, deren Werte und Ziele ich teile und mitteile.
Gewiss schützt eine solche Offenlegung von Interessen und Loyalitäten vor Missverständnissen: Es besteht kein Zweifel daran, dass Rednerinnen und Redner, die sich so vorstellen, dieser oder jener Gruppierung angehören. Das tendenzielle Langweilige dabei ist nur, dass man damit meistens auch schon weiß, was sie jeweils sagen werden. In den einflussreichen TV-Talkshows zum Beispiel erlebt man viel zu oft einen Austausch festgezurrter Haltungen, und die Frage, wer recht hat, verwandelt sich unversehens in eine Machtfrage: Recht hat, wer seine Sicht am hartnäckigsten gegen die Einwände anderer abdichten kann. Gesprächsrunden dieser Art gleichen also einem Schlagabtausch, wie er aus Parlamentsdebatten oder Tarifverhandlungen bekannt ist, und sie sind weit entfernt von einer „offenen“ Diskussion, in der es etwa möglich wäre, Anregungen aufzugreifen, probehalber mit dem Kopf des anderen zu denken, um so den eigenen Standpunkt zu überprüfen oder gegebenenfalls zu revidieren.
4.
Im Bereich der Sexualität und der Geschlechtlichkeit sind zurzeit erhebliche Veränderungen im Gange, die tief in tabubewehrte und schambesetzte Zonen eingreifen. Es wäre also eher verwunderlich, wenn die „offene Sprache“, die auch sonst nicht sehr entwickelt ist, gerade angesichts dieses Komplexes mühelos möglich wäre. Bei denen, die an tradierten Männer- und Frauenbildern festhalten, hört man entweder trotzige Witzchen wie „Ich sag immer: Frauen gehören zum Gynäkologen, Männer zum Urologen, und alle andern zum Psychiater“, oder aber verdruckste Geständnisse: „Sorry, aber ich erwische mich gelegentlich bei dem Gedanken, dass bestimmte Wesen auch deshalb als Frauen oder Männer ‚gelesen‘ werden, weil sie es sind.“ Eine Sprache, die jede Ausdrucksform der Sexualität verstehen und akzeptieren könnte, müsste über derartige Verlegenheitslösungen hinauskommen. Aber wie?
Wenn man unter „offener Sprache“ vor allem rücksichtslose Ehrlichkeit versteht, dann war der homosexuelle Mann sehr offen, der in einer Ausgabe des TV-Magazins „Kulturzeit“ einmal erklärte: „Wenn ich zwei Heteros schmusen sehe, muss ich kotzen.“ Ein solcher Satz wäre noch vor wenigen Jahrzehnten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen unsagbar gewesen. Dass er heute möglich ist, kann als Fortschritt gelten: Gruppierungen, die sich von der Mehrheitsgesellschaft durch eine eigene sexuelle Orientierung unterscheiden, erklären unverblümt und provokant ihre Sicht- und Lebensweisen. Die Verlautbarung des jungen Mannes ist also als emanzipatorischer Akt der Freiheit einzuordnen, und tolerante Heteros tun gut daran, ihn nicht allzu persönlich zu nehmen. Zumindest in der woken Interpretation des Geschehens steht unbezweifelbar fest, dass all jene Minderheiten, die unter dem Passwort „queer“ den tradierten Mann-Frau-Dualismus überwinden wollen, die Benimm- und Verhaltensregeln der Majorität aggressiv zurückweisen dürfen.
Versteht man unter „offener Sprache“ allerdings auch die Bereitschaft, problematische und kontroverse Themen zu durchdenken, dann darf hier eine kritische Nachfrage folgen: Was den Vertretern von Minderheiten in einem progressiven Kulturmagazin recht ist, müsste der Mehrheit billig sein. Sonst entsteht der giftige Verdacht, wer dem Zeitgeist nicht vorbehaltlos zustimme, würde gecancelt. Stellen wir uns also vor, der besagte schwule Mann wäre mit einem „heteronormativen“ Mann konfrontiert worden, der ihm entgegnet hätte: „Und ich muss kotzen, wenn ich zwei Schwule schmusen sehe“. Die eine Aussage wäre so emotional wie die andere, und wahrscheinlich würden sich die beiden danach in wechselseitiger Abneigung voneinander verabschieden. Aber wer weiß? Vielleicht könnte durch eine solch scharfe, aber ehrliche Konfrontation auch ein Gespräch darüber entstehen, dass „sexuelle Orientierungen“ nicht bloß wissenschaftliche Konzepte sind, die sich in gelassener Sachlichkeit erörtern lassen, sondern dass sie mit (unter Umständen sehr heftigen) Gefühlen des Ekels, der Scham und der Beängstigung einhergehen. Um diese Einsicht verständlich zu artikulieren, bedürfte es allerdings einer Sprache, die über das bloße Kotzen hinauskäme.
5.
Keine Kleider, keine Falten
Unergründliches Gesicht
Tätowierte Kunstgestalten
Buntes helles Neonlicht
Naja, das trifft auch nicht ins Schwarze.
In welches Schwarze denn?
Man sagt halt so.
Ja ja, es ist zurzeit wieder ordentlich wichtig, was „man“ sagt. Wie es scheint, erträgt die Öffentlichkeit keine Spielereien mehr, sie will Bekenntnisse: Wo stehst Du? Was denkst Du? Was tust Du? Dieser Positionierungsdruck wird nicht nur von der „woken“, progressiven Seite ausgeübt, sondern erst recht von konservativen oder gar reaktionären Kräften. Nirgendwo besteht Bedarf an impertinenten Gedanken, alles soll angepasst und genehm zugehen, wenn auch die Maßstäbe dessen, was als genehm gilt, beträchtlich variieren.
Aber wäre es nicht eine bewusstseinserweiternde literarische Nebenbeschäftigung, gelegentlich so zu schreiben, wie „man“ gerade nicht sagt? Wenn die einen das Wort „Studierende“ verlangen, und die anderen auf „Student“ beharren, könnte man ja unter dem Motto Tertium datur auch Wissensbeflissene schreiben. Diese Suche nach ungewohnten Bezeichnungen war das Projekt der Avantgarden des 20. Jahrhunderts: offene Sprache, offenes Kunstwerk. Dem könnte man allen politischen Krisen und Bedrohungen zum Trotz die Treue halten, zumindest im relativ autonomen Bereich der Kunst und der Literatur, wo nichts so dringlich ernst genommen werden muss wie in der Politik, der Jurisprudenz oder der Ökonomie. Um diesen Weg zu finden, könnte es sich empfehlen, die viel beschworene „Sprecherposition“ gelegentlich zu ironisieren und sich mit den Worten vorzustellen: Ich als Bierdeckelsammlerin finde das alles gar nicht so wichtig, oder ich als Hobbykoch rede nur über Gewürze oder gar: Ich als ich beobachte, was es alles gibt und mache mir meine Gedanken dazu. Und wie wichtig das ist, was mir dabei ein- und auffällt, das dürfen die anderen entscheiden.