Zum Programm der Konferenz
Moderne und Avantgarde sind künstlerische Sprachen der Brüche. Beide Strömungen waren gegen die traditionelle Auffassung von Kunst gerichtet, und haben oft eine antagonistische Position in Beziehung zu bestehenden kulturellen und sozialen Institutionen und Beziehungen eingenommen. Diese Konferenz untersucht utopische Alternativen, welche modernistische und avantgardistische Künstlerinnen und Künstler der Gesellschaft ihrer Zeit angeboten haben.
Dies war nicht immer nur eine Frage der Annahme einer externen Position: die russische Avantgarde zum Beispiel wurde durch den frühen sowjetischen Staat in einer unangenehmen – und vorübergehenden – Allianz zur Geburt des „Neuen Menschen“ vereinnahmt. Die EAM 2014 Konferenz in Helsinki erinnert an den hundertsten Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, indem sie als Ausgangspunkt die vielen utopischen Visionen innerhalb der europäischen Literatur und Kunst sowie deren Zusammenbruch im Angesicht der Schrecken des Krieges wählt.
Die Auswirkungen des Krieges erstreckten sich über das ganze folgende Jahrhundert, und die Konferenz wird auch die utopischen Dimensionen der Neo-Avantgarde, diskutieren: zum einen jene des Westen welche sich Alternativen zu Konformismus und Konsumgesellschaft erträumte oder jene des Ostens, mit seinen Alternativen zu sozialistischen Dystopia.
Der Call lud ein, Vorschläge und Beiträge aus Forschung und Praxis zu allen Bereichen der Avantgarde und des Modernismus: Kunst, Literatur, Musik, Architektur, Film, künstlerische und soziale Bewegungen, Lifestyle, Fernsehen, Mode, Theater, Performance, Aktivismus, Design und Technologie einzureichen, die sich mit den jenen Visionen, welche Moderne und Avantgarde als Alternative zur existierenden Realität angeboten haben, beschäftigen: Utopien, Chimären, Träume; Abstraktionen; Wünsche; Mythen; Dystopien, Stadtansichten und unmögliche Landschaften; Politik oder Anti-Politik; Vorstellungen vom Körper – befreit oder gefesselt; erotische Befreiung; Rückzug ins Private oder die Kartographierung von mutigen Alternativen; die Avantgarde als Alternative zum Staat, oder als dessen Verkörperung; das utopische Moment im nihilistischen oder abstoßenden Kunstwerk.
Drei Teams aus dem Netzwerk ViennAvant haben bei der EAM 2014 ihre Forschungsergebnisse zum Konferenzthema vorgestellt:
Die Gruppe Irene Suchy (Musikwissenschaft), Hannes Schweiger (Literaturwissenschaft) – nun ersetzt durch Helmut Neundlinger, – Harald Krejci (Kunstgeschichte) und Rudolf Kohoutek (Architektur) präsentierte das Panel
“Schmäh. Humour as a constitutive element of Viennese post-war avant-gardes”
Einreichungs-Abstract
“Viennese Post War Avant-garde movements are still disregarded in respect of their interdisciplinary relationships and their international context. While Vienna was destroyed by war, dominated by hunger, and its cultural institutions were still bestridden by exponents of the former Nazi regime, new forms of artistic expression were brought into being by the concept of utopia. These Avant-gardists were driven by a radical break with the past. Despite formal differences between individual positions, it is possible to identify common aesthetic strategies: a propensity towards ritual as well as humour – an aspect often overlooked:”
“As a constitutive component of the Viennese Post-War Avant-garde movements, the panel analyzes a special humour in sense of fictionalizing reality. Our research departs from Gertrud Koch’s theses, cultural scientist, who works on a proleptic concept of humour, elaborated from Nietzsche, Husserl and Peter L. Berger. With humour as such strategy of perspectival decentering, these avant-gardists produced a utopian world in contrast to their political and social reality, which they refused.”
“The proposal aims at developing a scientific approach that draws on works by Otto M. Zykan and Kurt Schwertsik in music, Ernst Jandl and Gerhard Rühm in literature, Friedensreich Hundertwasser in fine arts, Zünd up and Missing Link in architecture.”
Summary des Panels
“Die Arbeit setzt mit dem Versuch einer Begriffsklärung ein: Lässt sich überhaupt eine eindeutige Definition von Humor finden, und welche Aspekte müsste eine solche umfassen? Alltagssprachlich wird unter dem Stichwort Humor Verschiedenes und zum Teil Widersprüchliches subsumiert: Ironie, Parodie, Nonsense, das Lächerliche ebenso wie das Groteske, das Skurrile oder Makabre, das Hinterfotzige, die Verhöhnung oder die Verhetzung.. Ebenso zahlreich wie seine Ausprägungen erscheinen auch die Ansätze, ihn hinsichtlich seiner Präsenz nicht zuletzt im Bereich der künstlerischen Avantgarde zu beschreiben. Der französische Surrealist Andre Breton hat ihn mit seiner legendären „Anthologie des schwarzen Humors“ zu einer zentralen Strategie progressiven Kunstschaffens geadelt. Nicht nur in den Werken der Surrealisten übernimmt er die Funktion der Provokation, der Infragestellung, der Umkehrung bestehende Verhältnisse und öffnet auf diese Weise auch Räume für zukünftige, utopische Weltentwürfe.”
“In diesem Sinn hat der Humor im Kontext der Avantgarde nicht nur eine rein ästhetische, sondern darüber hinaus auch eine eminent politische Komponente. Er verweist einerseits auf das historische Davor, indem er via Schmäh, Witz und subversivem Gestus die traumatischen Erfahrungen des Totalitarismus verarbeitet, und auf ein Danach, indem er nicht bloß das „Herrschende“ dekonstruiert, sondern neue, konstruktive ästhetische und politische Standpunkte ermöglicht.”
“Diese Dimension betrifft sämtliche künstlerischen Disziplinen und die innerhalb und zwischen diesen Disziplinen auftretenden und agierenden Gruppen. In Einzelstudien zu Musik, bildender Kunst, Literatur und Architektur von Vertretern des Netzwerks ViennAvant soll gezeigt werden, dass und inwiefern die Künstler und Künstlerinnen der Wiener Nachkriegs-Avantgarde prägend an der gesellschafts-politischen und zeithistorischen Auseinandersetzung beteiligt waren.”
“Der viel beschworene „Schmäh“ in seinen vielfältigen Ausformungen kann darin als eine bedeutende ästhetische Strategie der Kunst identifiziert werden. Die Künstlerinnen und Künstler entdeckten darin nicht zuletzt eine Möglichkeit, eine antifaschistische, anarchistische, pazifistische oder auch humanistische Haltung einzunehmen. Im Schmäh formuliert sich jene musikalisch-gestisch-performative-mediale Sprache, die die verdrängten und verschwiegenen Epochen des Austrofaschismus und der NS-Zeit auf unhintergehbare Weise vergegenwärtigt.”
“In den Analysen der Werke werden die Ausgangspunkte des Witzes im Irrtum und Missverständnis, in unglücklichen Aussprüchen und im Hierarchiegehabe, im Hoheitsgehabe und in seinen Belegen im Publikumsverhalten – dem befreienden Gelächter – dokumentiert und in Gesprächen mit den ProtagonistInnen in Frage gestellt. Auch das charakterisiert diese Epoche und die Arbeit an ihr: ProtagonistInnen und DokumentaristInnen gehen nicht nur über die Grenzen der Kunstkategorien und der Tabus, sondern sie pflegen in ihren Arbeits- und anderen Verhältnissen auch gelegentlich ihre Positionen zu tauschen. Befragt werden Lore Heuermann und Friedrich Achleitner, Kurt Schwertsik und H.K. Gruber, Gottfried Schlemmer und Ferry Radax, Hermann Czech und Marie Thérèse Escribano, Wolf D. Prix und VALIE EXPORT.”
“Zu den einzelnen Beiträgen: Ausgehend von Zykans polemischer Arie und den identifizierten Parametern des Witzes befasst sich Irene Suchy mit dem Werk Schwertsiks, Rühms und HK Grubers. In der Literatur identifiziert Helmut Neundlinger mit der Frage „wo bleibb da hummooa“? die befreienden Erschütterungen des Lachens an Ernst Jandl oder Gerhard Rühm. Harald Krejci sucht ironische Wenden im Werk Hundertwassers und anderer Malerei und Rudolf Kohoutek untersucht die Architektur der 50er bis 70erJahre auf ihre humorvoll-witzige Komponente.”
Das Projekt wird vom Bundeskanzleramt sowie der österreichischen Botschaft in Helsinki gefördert.
Gabriele Jutz von der Universität für Angewandte Kunst, Wien, und ihre Kolleginnen Nina Jukic und Christina Pia Hofer das Panel
“The Utopian Potential of the Obsolete”.
“Today, obsolescence is a relevant topic not only in artistic practices, but also in popular culture. This panel addresses the question why there is this interest today and how the obsolete can serve critical, even utopian purposes. Nina Jukic analyzes how the current resurrection of analogue photography in popular culture reflects utopian desires to resist the digital abundance of the modern world, yet relies on capitalism itself. Kristina Pia Hofer will focus on the example of Herschel Gordon Lewis’ exploitation-feminist utopia She-Devils on Wheels (1968), whose appeal to later queer/feminist engagement has roots in the insistent presence of obsolete technology. Gabriele Jutz will deal with the historical avant-gardes, showing that their attitude to the new technologies of (audio)visual reproduction was retrograde, but necessarily so, given their radical utopian aspirations.”
Ingrid Fürhapter und Markus Ender vom Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck hielten in einem offenen Panel den gemeinsamen Vortrag
„Immer eines Kommenden trächtig?“ Utopische und apokalyptische Visionen in der Zeitschrift „Der Brenner“ (1910 – 1954)
“1910 gründete Ludwig v. Ficker in Innsbruck die kunst- und kulturkritische Zeitschrift Der Brenner, die als einzige der wenigen Kulturzeitschriften Europas beide Weltkriege überdauerte. Sie wurde zunächst von Carl Dallagos utopischer Idee des selbstbestimmten, mit sich und der Natur in Einklang stehenden Menschen geprägt, die bald vom Konzept einer religiösen Individualität, die den Sprung in den Glauben wagt, überlagert wurde. Georg Trakl und Theodor Haecker betonten zunehmend die individuelle und allgemeine Schuld des Menschen und der erlösungsbedürftigen Schöpfung. Liebesutopien von der dionysisch-rauschhaften Verschmelzung von Mann und Frau trafen auf apokalyptische Vorstellungen, die zwischen Unschuld, schuldhafter Verstrickung, Sehnsucht nach Reinheit und Hoffnung auf Erlösung und Auferstehung zu einem neuen Menschentum changierten.”