Geschützte Werkstätten: Die Entstehung der Wiener Free-Jazz-Avantgarde im Umfeld der 1950er- und 1960er-Jahre
Von einem “tönendes Gruselkabinett” war da Mitte Dezember 1969 in der Tageszeitung Kurier zu lesen , im Volksblatt hingegen von „Jazz zum Abgewöhnen“ und einer “musikalische[n] Geisterbahn”, wobei im selben Artikel zudem der Ruf nach der Gründung eines “Instrumentenschutzvereines” laut wurde. Und der Express berichtete: „Das Publikum klatschte und buhte zu etwa gleichen Teilen, plädierte aber schließlich immer öfter für ‚Aufhören!’ Die Masters packten ihre Instrumente ein und verließen die Bühne mit dem Hochgefühl, unverstanden geblieben zu sein.“
Ja, es roch schon ein bisschen nach Skandal, was sich da am 13. Dezember 1969 im Großen Saal des Wiener Konzerthauses abspielte. Im Vorprogramm zum Konzert von Jazzpianisten-Legende Thelonious Monk trat an jenem Abend die Free-Jazz-Formation der Masters of Unorthodox Jazz auf – und polarisierte in einer Art und Weise sowohl Publikum als auch Medien (es sei dazu gesagt, dass es auch positive, apologetisch gefärbte Rezensionen gab ), die heute, 40 Jahre später, kaum mehr denkbar scheint. Dabei hatte auch einige Monate zuvor ein Konzert jener Masters (im Folgenden auch mit MoUJ abgekürzt) mit einem Eklat geendet, und zwar im März 1969 beim Österreichischen Amateur-Jazzfestival, ebenfalls im Wiener Konzerthaus: Als letzter Programmpunkt des Abends angesetzt, mussten die Musiker ihr Konzert abbrechen – was weniger mit dem nach einem enthusiastisch gefeierten Auftritt des Cannonball-Adderley-Quintetts unaufmerksamen Publikum zu tun hatte, als mit den Veranstaltern, die bei laufendem Konzert der Masters Mikrofone und das technisches Equipment demontieren ließen. Auch das ist heute nicht mehr vorstellbar.
Wer waren diese Musiker, die im Jahr 1969 noch solche Reaktionen provozierten? Wer waren diese Männer mit den teilweise exotisch klingenden Namen Alaeddin Adlernest, Harun Ghulam Barabbas, Richard Ahmad Pechoc, Anton Michlmayr und Walter Muhammad Malli? Nun, bei jenen „Meistern des Unorthodoxen“ handelte es sich erstaunlicherweise tatsächlich um Musiker aus Wien. Deren Erfahrungen mit unfreundlichen Publikumsreaktionen bereits Jahre zurück reichten, um genau zu sein: in das Jahr 1958, in das berühmte Künstlerlokal Adebar in der Annagasse in der Wiener Innenstadt. Damals hatten Walter Muhammad Malli und Richard Ahmad Pechoc, der eine 18 Jahre jung und aus Graz stammend, der andere 19 und gebürtiger Wiener, beide Studenten bei Albert Paris Gütersloh an der Akademie der bildenden Künste, in der Adebar erstmals öffentlich ihrem Hobby gefrönt. Immer dann, wenn die Haus-Band pausierte, begannen sie am dortig aufgestellten Flügel abwechselnd spontan zu improvisieren – und das, obwohl beide pianistische Autodidakten waren. Oft und gerne erzählt wird dabei die Geschichte des darob wenig begeisterten Ober erzählt, der die beiden unter Androhung von Ohrfeigen vom Klavier zu vertreiben suchte. Allerdings gesellte sich in der Adebar auch ein ausgebildeter Bassist namens Toni Michlmayr zu den beiden Teenagern und enthob damit deren Experimente erstmals der Sphäre unbekümmerten Dilettierens.
In den folgenden Jahren mehrten sich die nächtlichen Jazzlokaltouren, im Zuge derer Malli, Pechoc und Kollegen in musizierender Absicht potenzielle Auditorien verunsicherten. Es waren dies stets kurze, unsanft beendete Auftritte, einmal – so wird erzählt – hätte ein Lokalbesitzer sogar die Klaviatur aus seinem Flügel entfernt, um auf diese Weise Richard Ahmad Pechoc am Spielen zu hindern. Walter M. Malli erzählt: „Damals war ja überhaupt die Möglichkeit, das zu spielen, eine Utopie. (…) Allein unser Auftreten hat die Leute schon schockiert.“ Und an anderer Stelle: „Wenn ich zusammen mit Barabbas in ein Musiklokal eingetreten bin, wurde so mancher alteingesessener Jazzer bleich im Gesicht! Bereits unser Anblick war offenbar furchterregend; die hatten Angst, dass wir in die laufende Session einsteigen könnten.“ Der furchterregende Anblick hatte allerdings tatsächlich mit einem unüblichen Äußeren zu tun: Der spätere Saxofonist Harun Ghulam Barabbas trug lange Haare, später eine Irokesen-Frisur, Malli und Pechoc kleideten sich mit Fez und Pluderhosen, was mit den arabischen Namen Muhammad und Ahmad zu tun hatte: Diese rührten daher, dass die beiden Freunde und Studienkollegen 1958 zum Islam konvertiert waren.
Für frei improvisierte Jazzmusik im Wien der frühen 1960er-Jahren ein aufgeschlossenes Publikum oder auch nur offenohrige Musikerkollegen zu finden, schien damals ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Hatte der Jazz einerseits zu dieser Zeit noch nicht den Aufstieg zu einer in ihren Rezeptions- und Edukationsmechanismen der klassischen Musik nahe stehenden Kunstform vollzogen und haftete der Musik mitunter noch immer ein subkulturelles Bürgerschreck-Image an, so war andererseits das Klima in Österreichs Jazz-Szene um 1960 ein eher konservatives. Nachdem die Improvisationsmusik in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre durch Fatty Georges Lokalgründungen in der Wiener Innenstadt eine Blütezeit erlebt hatte, entzogen nun die aufkommende Welle des Rock’n’Roll wie auch das sich mit Einführung des Fernsehens verändernde Freizeitverhalten dem Jazz Publikum und den Musikern Arbeitsmöglichkeiten. Dies manifestierte sich im Exodus beinahe der gesamten heimischen Musiker-Elite: Hans Koller lebte bereits seit 1950 in Deutschland, ihm folgten im Laufe der Jahre Roland Kovac, Carl Drewo und Fritz Pauer nach, während Vera Auer, Attila Zoller und Joe Zawinul nach New York übersiedelten. Aufgeschlossene, an neuen Strömungen interessierte Musiker von Format fehlten. Auch Fatty George verließ nach der behördlichen Schließung seines Saloon am Petersplatz im Frühjahr 1963 Wien ein zweites Mal in Richtung Deutschland. Im Club, der von Mai bis September desselben Jahres als Art Center eine nochmalige kurze Blüte als Jazz-Zentrum und Szene-Treff der Wiener Boheme erlebte, fanden indessen auch die Musiker um Malli und Pechoc zuweilen ein Forum für ihre Musik. Richard Ahmad Pechoc erinnert sich an eine Begebenheit, die seine und seiner Mitstreiter kontrastierende ästhetische Anschauungen pointiert veranschaulichte: „Wir haben einmal dort gespielt, und dann ist der Fatty George gekommen mit ein paar Musikern, mit seiner Gruppe halt, und die haben jedenfalls vorgehabt, dort zu proben. Sie haben gesagt, dass wir aufhören sollen. Und wir haben aufgehört und sind gegangen. Er hat [zuvor noch] eine Zeit lang interessiert zugehört und hat dann gefragt, ob ich das jetzt wiederholen kann, was ich da gespielt habe. Ums Wiederholen geht es denen immer. Ich weiß nicht mehr genau, was ich gesagt habe, aber jetzt weiß ich ganz genau, dass es Dinge gibt, die unwiederholbar sind. Und gerade auf die kommt es eigentlich an.“
Offiziell für ein Konzert engagiert wurden die Wiener Free-Jazzer in diesen Jahren nur ein einziges Mal – und das bezeichnenderweise nicht in Wien, sondern in Graz. Mit der Eröffnung des Forum Stadtpark wurde im November 1960 der Grundstein für die internationale Reputation der steirischen Kapitale als Literatur-Hochburg gelegt, jedoch auch – dank neun Referaten – anderen Sparten der Grazer Kulturlandschaft ein Kristallisationspunkt etabliert. So auch der nach dem Krieg von den britischen Besatzern geförderten, vitalen steirischen Jazzszene: Retrospektiv scheint es kein Zufall, dass sich gerade in Graz, wo 1965 europaweit erstmals die akademische Verankerung der Jazzausbildung gelang, erstmals ein Veranstalter gegenüber den seltsamen Klängen der Wiener Musiker offen zeigte. Allerdings stieß das Konzert des Ahmad Pechoc Trios am 28. Mai 1961 im Forum Stadtpark mit Pechoc (Klavier), Malli (Schlagzeug) und Karl Anton Fleck (Bongos, Congas) selbst hier auf Pfiffe und Ablehnung durch das Publikum. „Jazzfreunde ergriffen die Flucht“ titelte tags darauf der Bericht im Grazer Montag.
Rückblickend erscheint die distanzierte Reaktion der Zuhörerschaft nicht überraschend, bedeuteten die teils gänzlich themenlosen, teils sehr frei interpretierten Thelonious-Monk- und Sonny-Rollins-Stücke doch die österreichweit erste öffentliche Darbietung von Musik, die ein paar Jahre später „Free Jazz“ genannt werden sollte. Zu einer Zeit, wohlgemerkt, in der man selbst in New York angehörs der Experimente eines Ornette Coleman und eines Cecil Taylor erst ratlos von einem „New Thing“ zu sprechen begann, und noch geraume Zeit, bevor die Welle der freien Improvisation Mitte der 1960er-Jahre nach Europa herüberschwappte.
„Das Publikum zeigte massive Ablehnung; dass da auch die Lokalpresse kräftig dreinschlug, hat uns natürlich besonders gefreut. (…) Die Reaktionen waren uns Bestätigung genug, dass wir ‘richtig lagen’“ – so gab Walter Malli anno 1988 im Magazin Jazzlive zu Protokoll. Ihm und seinen Kollegen bedeutete Ablehnung durchaus keine Entmutigung, vielmehr Bestätigung im Anders-Sein, oder besser: im Selbst-Sein – denn dieses Anders-Sein war mitnichten Selbstzweck. Musikalisch ging es nicht um Provokation, sondern um die Freiheit, Musik nach eigenem Gutdünken zu machen. Auch der Übertritt zum Islam und wenig später zur Baha’i-Religion geschahen nicht als Gag oder aus juvenilem Subversionsdrang heraus. Wiewohl beide, Malli und Pechoc, betonen, ihre Konvertierung sei auch als Distanzbekundung gegenüber der von parteipolitischen und kirchlichen Institutionen getragenen Kunstszene (etwa in Gestalt der deklarierten Katholiken Boeckl und Gütersloh oder der Galerie nächst St. Stephan) gedacht gewesen, so stand doch das Interesse an den theologischen Inhalten im Vordergrund. Pechoc etwa beschäftigte sich intensiv mit dem Koran und arbeitete sich in der Nationalbibliothek durch die fünfbändige Enzyklopädie des Islam.
Das Konzert im Forum Stadtpark blieb eine Eintagsfliege. Ein halbes Jahrzehnt sollte vergehen, bis die Musiker wieder regulär vor Publikum spielen konnten. Dass die Masters of Unorthodox Jazz trotz dieses unwirtlichen Umfelds einen langen Atem bewiesen und fünf Jahre später überhaupt noch existieren, hatte – so die These des Autors dieser Zeilen – auch eine andere Ursache: Der Wille zur Abgrenzung nach außen ging mit der Möglichkeit der Solidarisierung nach innen einher. Will heißen: Ein besonderer Rückzugsbereich, eine Art geschützte Werkstätte bot jenen Freiraum, in dem die Musiker ohne alle Hemm- und Hindernisse ihrer Musik frönen konnten und zudem soziale Akzeptanz, Bestätigung erfuhren. Diesen Raum fanden Walter Malli und Richard Pechoc, die als junge Maler die Erfahrung gemacht hatten, dass ihnen die etablierten Galerien verschlossen blieben, dass andererseits mit selbst organisierten Ausstellungen durchaus Aufmerksamkeit zu erzielen war, in der berühmten Galerie zum roten Apfel. Diese wurde am 11. Juli 1959 in einem Hinterzimmer der elterlichen Wohnung Pechocs in der Landstraßer Hauptstraße 74 eröffnet und entwickelte sich rasch zu einem Fixpunkt innerhalb Wiens Galerien-Szene. Jürgen Leskowa, Martha Jungwirth und einmal auch Hermann Nitsch stellten hier Bilder aus, Alfred Schmeller, damals Direktor des Museums des 20. Jahrhunderts, später „der Apollinaire des ‘roten Apfel’“ genannt , und ab 1962 auch Walter Koschatzky, der in diesem Jahr das Direktorat der Graphischen Sammlung Albertina übernahm, waren gern gesehene Vernissagengäste.
Die Musik war in der Galerie zum roten Apfel von Anfang an mit an Bord – zumal die Wohnung der Familie Pechoc jener Ort war, an dem 1956 die Improvisationsexperimente von Richard Pechoc und Walter Malli, ersterer am Klavier, zweiterer an Sopransaxophon bzw. Tamburin und Triangel (als Schlagzeug-Ersatz), begonnen hatten. Im November 1959 zeigte Malli in der Galerie sieben abstrakte, mit Salute to John Coltrane überschriebene Aquarelle. Inspiriert war diese Hommage von Coltranes Saxophon-Soli auf der berühmten, 1959 eingespielten Miles-Davis-LP Kind of Blue. Neben dem Abspielen von Schallplatten war Jazz indessen alsbald auch in Gestalt von Live-Einlagen der beiden Jung-Galeristen präsent.
Die Bekanntschaft mit Karl Anton Fleck, der am 27. März 1961 erstmals in der Galerie zum roten Apfel ausstellte, bedeutete einen wichtigen Impuls. Fleck war nicht nur gelernter Grafiker und Tiefdruckretuscheur, sondern auch Schlagzeuger. Er hatte Ende der 1940er-Jahre Walter Heidrichs Institut für Jazzmusik absolviert und sich in der Wiener Jazzszene einen Namen gemacht. Der Weg von der Fachsimpelei über Jazz zum Gespräch auf den Instrumenten dürfte nicht weit gewesen sein und unversehens, noch im selben Monat, sah sich Fleck auch in seinen musikalischen Ambitionen in den Kreis der Galerie integriert. Er war auch der Dritte im Bunde des Ahmad Pechoc Trios, das im Mai 1961 sein erstes und – in dieser Besetzung einziges – Konzert im Forum Stadtpark in Graz gab.
Harun Ghulam Barabbas – mit bürgerlichem Namen Klaus Mayrhofer – hatte bereits 1960 in der Galerie zum roten Apfel Bilder ausgestellt, ab 1961 wurde der damals 18-Jährige im Rahmen der musikalischen Sessions aktiv. Der Posten des Pianisten war freilich bereits mit Pechoc besetzt, auf sein und Mallis Anraten entschied sich Barabbas daher für das Saxofon. Pechoc erinnert sich, die Töne seien aus Barabbas’ neuem Instrument sogleich „gesprudelt wie aus einer Quelle“ , nach Walter Malli hat das „Naturtalent (…) von der ersten Minute [an] schon so gespielt, wie er es dann auch in den folgenden Jahren praktiziert hat.“ Autodidaktisch und nur nach dem Gehör ging Barabbas daran, die Möglichkeiten von Alt- und Tenorsaxophon auszuloten. Barabbas war auch derjenige, der im August 1964 vier Musiker – neben ihm selbst Walter M. Malli (Schlagzeug), Richard A. Pechoc (Klavier) und den Fagottisten Horst Brückl alias Alaeddin Adlernest, einen Jugendfreund Mallis aus Graz, nunmehr im Orchester der Grazer Philharmoniker beschäftigt – dazu veranlasste, sich in ein Tonstudio zu begeben und dort Aufnahmen zu machen. Diese sind unveröffentlicht geblieben, bedeuteten aber doch eine Zäsur: Die musikalischen Resultate festhalten zu wollen, dies war auch ein Ausdruck des Bewusstseins um die Relevanz der klingenden Aktivitäten. Anlässlich dieser Aufnahmen wurde auch der Name Masters of Unorthodox Jazz gefunden – der August 1964 kann also als Gründungsdatum gelten.
Fungierte die Galerie zum roten Apfel also einerseits als eine Art Kontaktbörse, als Feld zur Rekrutierung gleichgesinnter Musiker, so war dies andererseits der Ort, an dem die MoUJ dann und wann, vor allem bei Vernissagen, eine aufgeschlossene Zuhörerschaft finden konnten. „In Künstlerkreisen sah man unsere Musik als ’Aktion’, in Jazzkreisen als Bedrohung“, hat Harun Ghulam Barabbas die Rezeption der frühen Experimente resümiert. Am 30. Jänner 1965 erlebte die Galerie zum roten Apfel ihre letzte Ausstellungseröffnung. Das Haus wechselte den Eigentümer, die Familie Pechoc musste umziehen, die Galerie somit ihre Pforten schließen. In gewisser Weise hatte sie ihre Rolle als Karrieretrittbrett freilich bereits erfüllt: 1964 war Pechoc in die Künstlervereinigung Der Kreis aufgenommen worden, Malli wurde diese Ehre im März 1965 zuteil, mit einigem zeitlichem Abstand folgten auch Barabbas (1970) und Fleck (1973). Fortan bot dieser Zusammenschluss bildender Künstler in jährlichen Gemeinschaftsausstellungen im Wiener Künstlerhaus Öffentlichkeitsgarantien und Kontaktmöglichkeiten. Und auch musikalisch schafften Malli, Pechoc und Co. kurz darauf den Sprung an die Öffentlichkeit: Am 22. Juni 1966, knapp eineinhalb Jahre nach Schließung der Galerie zum roten Apfel, feierten die MoUJ mit einem Konzert im Internationalen Kulturzentrum in der Annagasse endlich doch ihr spätes Wien-Debüt. Um wiederum drei Jahre später, im Jahr 1969, in dem auch die mit einem Cover von Arnulf Rainer versehene Debüt-LP Overground erschien, jene eingangs dieses Aufsatzes zitierten Aufwallungen bei Publikum und Medien zu erzeugen, die anderswo schon zehn Jahre zuvor passiert waren.
Fritz Novotnys Reform Art Unit und der Freundeskreis
Etwa zur gleichen Zeit wie die Masters of Unorthodox Jazz, vermutlich einige Monate später , erschien ein anderes Ensembles mit verwandten Interessen auf der Bildfläche: Die von Sopransaxofonist und Flötist Fritz Novotny geleitete Danube Art Group. Anfang des Jahres 1967 in Reform Art Unit (RAU) umbenannt, sollte diese Formation den MoUJ in den folgenden Jahren durch personelle Überlappungen und durch ein ambivalentes Verhältnis zwischen Konkurrenz und Kooperation verbunden sein. Für beide Ensembles wurde in den Jahren um 1970 das Museum des 20. Jahrhunderts zur Heimstätte, gemeinsam veröffentlichte man 1971 die Doppel-LP „Vienna Jazz Avantgarde“. Während die Masters 1975 auseinander gingen, existiert die RAU bis heute.
Fritz Novotnys Erfahrungen mit öffentlichen Reaktionen waren weniger feindselige, weniger skandalträchtige. Interessanterweise fungierte auch in seinem Fall eine Art geschützte Werkstatt als Startrampe, als Raum, in dem er seine musikalischen Interessen in Ruhe Gestalt annehmen lassen und ausleben konnte. In Gegensatz zur Galerie zum roten Apfel war dies freilich keine physische Adresse, sondern eine soziale – ein Personenkreis. Ab 1958 war Novotny in Wien in eine lose Clique gleichaltriger junger Menschen hineingewachsen, die an intellektuellen und künstlerischen Themen ebenso interessiert waren wie an gesellschaftlichen Vergnügungen, wobei das Interesse an Literatur im Mittelpunkt stand. Primus inter pares in diesem sukzessive wachsenden Netzwerk war Rolf Schwendter, später als Schriftsteller, Protestliedsänger und Professor für Devianzforschung an der Universität Kassel bekannt geworden. Schwendter hat die Geschichte jener informellen Gruppe bzw. des Freundeskreises, wie man sich bald nannte, 2003 in seinem Buch Subkulturelles Wien. Die informelle Gruppe (1959–1971) aufgearbeitet. Dort schreibt er:„Es gab die große Koalition und ab 1966 die ÖVP-Alleinregierung. Ein lähmender gesamtgesellschaftlicher Konsens legte sich bleiern über das gesellschaftliche Leben und konnte subkulturelle Aktivitäten von vornherein nur als (der Tendenz nach) kriminell oder psychopathisch wahrnehmen. Es gab Krawattenzwang und Konsumationszwang, Titelhascherei und Parteienproporz sowie an vielen Stellen Rasierzwang und Heeresverehrung (wohlwollende Blicke auf die Geschichte zwischen 1938 und 1945 inbegriffen). Die Jugendhäuser wurden um 22 Uhr geschlossen, der Jazz wurde als „Negermusik“ nach Harlem verwünscht. An den Universitäten war die Autoritätsanerkennung ungebrochen, die Legitimität des „vorehelichen Geschlechtsverkehrs“ hart umstritten, und im Zweifelsfall galten die Normen des Milieukatholizismus. (…) Homosexualität war verboten und unterlag der Strafverfolgung. Ebenso verboten war, dank der Herren Torberg und Weigel, das Spielen der Stücke von Bertolt Brecht (dies zwar nicht unter Strafverfolgung, doch gab es für Autoren, die an Brecht gelernt hatten, ein faktisches Publikationsverbot). Auf jugendliche Subkulturen konkretisiert: Es gab keine Räume für der Tendenz nach abweichende Aktivitäten. (…) Nichts lag da näher als das Ausweichen in Privaträume (…), in zufällig ungenutzte Kellerräume elterlicher Mietverträge, in leer stehende Bunker und Bauruinen, öffentliche Parkanlagen, Schrebergartenhütten oder Extrazimmer von Wirtshäusern, die so schwach besucht waren, dass selbst unser niedriger Konsumationspegel für die Wirtsleute hinlänglich Anreize bot.“
Die Regeln dieser informellen Gruppe, so Schwendter, seien sehr einfach gewesen: Jede Person hatte das recht, Veranstaltungen zu beliebigen Themen in beliebiger Form vorzuschlagen. Dabei durfte keine wie auch immer geartete Zensur ausgeübt werden. Eine Person – zumeist er, Schwendter, selbst – sammelte die Vorschläge, stimmte die Termine aufeinander ab und kümmerte sich um geeignete Räumlichkeiten. Diese Veranstaltungen wurden über Aussendungen angekündigt, wobei „jeder Mensch, der/die vom ‚Freundeskreis’ erfuhr und dies wollte, in den Verteiler aufgenommen zu werden [hatte].“ Lesungen aus fremden Werken, Plattenabende, Leseaufführungen, rein dem Vergnügen dienende „Socials“ und Diskussionen zu politischen oder gesellschaftlichen Themen dominierten in den Anfangsjahren. Fritz Novotny engagiert sich früh in Sachen Musik, er organisierte Plattenabende, aber auch Lesungen. Wichtig waren für ihn indessen auch die so genannten „Art Sessions“, Meetings, die Rolf Schwendter „eine interdisziplinäre, Künste und Wissenschaften übergreifende Innovation, die gleichzeitig auch noch die Kluft zwischen Mitwirkenden und Zuhörenden überwinden sollte“, nannte, und die einer Vielzahl spontaner aktionistischer Launen zwischen Literatur, Musik, Essen und Trinken – oft auch simultan – Raum gaben. Aus der Frühphase sei noch die Reihe Jazz, Poetry & Booze als musikalisch relevant erwähnt, wo „zugleich Lyrik mit dazu harmonierenden Jazzplatten gelesen und dazu harmonierender Alkohol [und anderes; Anm.] getrunken“ wurde: Das ergab Kombinationen wie Miles Davis/Henry Miller/Rum oder Thelonious Monk/Georg Trakl/Jasmintee.
Mit dem weiteren stetigen Zustrom neuer Mitglieder, mit dem Anschwellen des Freundeskreises verdichteten sich die unterschiedlichen Interessen und Vorlieben zu Gravitationspunkten innerhalb der gemeinsamen Aktivitäten. Arbeitskreise wurden gegründet, um die disparaten Affinitäten zu bündeln und zu koordinieren. In den Informationen an den Freundeskreis des Jahres 1966 finden sich beispielsweise Hinweise auf Aktivitäten von Gruppen für alte Musik, Lyrik, Sozialwissenschaften und Friedensbewegung. Später erweiterten etwa Arbeitsgruppen für „Bauernschnapsen“ (geleitet von Joe Berger), Freikörperkultur und „Misthaufenstieren“ (geleitet von Fritz Novotny) oder „Kultur östlich des Altai und Ägyptens“ wie auch für Weltliteratur, Folklore, Scientology und Fußball das Spektrum.
Radiojournalist Peter Zimmermann resümierte im Rahmen eines Ö1-Diagonal-Portraits Rolf Schwendters: “Der Freundeskreis war demokratisch, jeder durfte gescheit sein, niemand musste sich blöd fühlen. Das Publikum war man schließlich selbst. (…) Der Freundeskreis wuchs, weil der Schess [Rolf Schwendter; Anm.] ein manischer Organisator war. Er sammelte Adressen, er schrieb Aussendungen, er überzog Wien mit einem Beziehungsnetz, in dem sich vom Arbeiter bis zum Rechtsanwalt alle möglichen sozialen Schichten und intellektuellen Ansprüche verfingen.”
Auch Fritz Novotny arbeitete an diesem Beziehungsnetz mit. Für seine musikalische Sozialisation waren die Hörbekanntschaft mit der Musik Yusef Lateefs, des Saxofonisten, der in den 1950ern die Oboe in den Jazz eingeführt hatte, sowie John Coltranes – besonders dessen orientalisierendes Sopransaxofon im Rahmen der Platte Olé Coltrane – von Bedeutung. Wie auch der Kontakt zu den Musikern der Masters of Unorthodox Jazz, besonders zu Harun Ghulam Barabbas. Novotny selbst und seine Freundeskreis-Kollegen irritierte das unorthodoxe Jazzspiel des Saxofonisten und seiner Kollegen naturgemäß weniger als viele andere: „Für uns war es auch völlig normal, dass in der Galerie zum roten Apfel Malli mit Barabbas eine archaische Art von Jazz machten, die sie woanders nicht spielen konnten. Wenn sie in irgendeinem Studentenclub aufgetaucht sind, hieß es: ‚Ah, das sind die, schnell, schiebt das Klavier weg!‘ Für uns war das normal, es war nichts absurd, es gab für uns kein absurdes Theater, keine absurde Musik.”
Es scheint logisch, dass Novotny alsbald vom Musik Rezipierenden zum Musik Produzierenden mutierte. Zu den im Rahmen des Freundeskreises veranstalteten Free-Jazz-Plattenabenden traten die im Rahmen der „AG Free Jazz“ organisierten Sessions, wobei sich Novotny hiebei von den Musikern des Freundeskreises sukzessive abkoppelte. Im Dezember 1965 suchte er per Zeitungsinserat nach Mitstreitern, der sich daraufhin meldende Trompeter Sepp Mitterbauer ist bis heute wesentlicher Protagonist der Reform Art Unit. Die erste verbürgte musikalische Darbietung bestritt Novotnys Ensemble – noch unter dem Namen Danube Art Group – im Dezember 1966. Im Frühjahr 1967 wurde die Formation in Reform Art Unit umbenannt, als die sie bis heute existiert.
Die Fragen, ob sich die Masters auch ohne Galerie zum roten Apfel konstituiert hätten, ob Fritz Novotny auch ohne die informelle Gruppe Musiker geworden wäre, sind hypothetisch, aber interessant: Die Räumlichkeiten in der Landstraßer Hauptstraße, aber auch die an wechselnden Orten stattfindenden Veranstaltungen des Freundeskreises hatten eine doppelte Funktion: Zum einen jene einer Kontaktbörse zur Rekrutierung Gleichgesinnter. Zum anderen jene der Schaffung von Freiräumen, in denen ohne jeden Leistungsdruck, ohne Erwartungshaltungen von Seiten eines Auditoriums in aller Ruhe kreative Energien und Ideen ausgelebt und ausgelotet werden konnten. Ohne diese geschützten Werkstätten scheint es zweifellos fraglich, ob in den späteren Protagonisten der Wiener Free-Jazz-Avantgarde im konservativen Umfeld Wiens der 1950er- und 1960er-Jahre überhaupt jemals die Idee gekeimt wäre, improvisierte Musik zum Lebensmittelpunkt zu machen. Und wenn, dann wäre ihr Weg wohl ein gänzlich anderer gewesen.
Andreas Felber, Mag. Dr., Studium der Musikwissenschaft, Geschichte und Politikwissenschaft in Salzburg und Wien. Freie musikwissenschaftliche und musikjournalistische Tätigkeit mit den Arbeitsschwerpunkten Jazz, ethnische, elektronische und zeitgenössische Musik für die Tageszeitung “Der Standard” sowie Fachmagazine in Österreich und Deutschland. Seit 2003 Lehraufträge am Institut für Popularmusik der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (gemeinsam mit Michael Huber bzw. Ekkehard Jost). 2008/09 Kurator und Organisator der Konzertreihe „Composers’ Lounge“ des Österreichischen Komponistenbunds. Moderation und Gestaltung u. a. der ORF-Radiosendungen “Jazznacht”, “Jazztime”, „Spielräume“ und „Zeit-Ton“ (Programm Ö1). Seit Juni 2015 Leiter der Ö1-Jazzredaktion. Publikation: “Die Wiener Free-Jazz-Avantgarde – Revolution im Hinterzimmer” Wien-Köln-Weimar 2005.