Der Grund der literarischen Avantgarde
In den Jahre nach 1945 etablierte sich in Wien relativ rasch eine sehr vielschichtige literarische Szene, und dies, obwohl zunächst die „Antimoderne“ (weiter) dominierte, obwohl der Großteil einer Autorinnen- bzw. Autorengeneration ermordet oder vertrieben worden war, obwohl es anfangs keine nennenswerten Institutionen gab, die eine „junge Literatur“ hätten unterstützen können usw..
Dieses „Trotzdem“ bildet demnach einen nicht wegzudenkenden Subtext, der die ersten Arbeiten bald „bekannter“ Autorinnen und Autoren wie Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Herbert Eisenreich oder H.C. Artmann grundiert. Es gilt daher, zunächst die Spielräume abzustecken, die jungen Schreibenden in Wien nach 1945 überhaupt zur Verfügung standen.
Ebenso schwierig wie die Frage des „warum“ ist die das „ab wann“ zu beantworten: Ein „Anfang“ einer neuen, formal wie sprachlich „avantgardistischen“ literarischen Entwicklung lässt sich nicht punktuell markieren. Vielmehr scheint kontinuierlich eine stark vernetzte „Szene“ entstanden zu sein, die nicht nur gegen den, sondern auch im „alten“ Kulturbetrieb agierte und teils äußerst durchlässige Grenzen aufwies – um gängige, stark vereinfachende Kategorisierungen anzuwenden: „Avantgarde“ konnte sich offenbar durchaus aus der „Antimoderne“ entwickeln und umgekehrt, und dies innerhalb kürzester Zeit und ein und dieselbe Person betreffend.
Eine dritte Frage ist eine definitorische: Was verschaffte einem Schreibenden das Etikett „Avantgarde“? Lässt sich der im Nachhinein meist als deutlicher „Bruch“ beschriebene Unterschied zwischen der „Avantgarde“ und den anderen im Umgang mit z.B. literarischen Traditionen, staatlichen Institutionen, historischen Themenstellungen usw. in den Jahren unmittelbar nach 1945 überhaupt nachweisen? Und, wenn ja, ab wann?
Manfred Müller, Mag. Dr. Studium der Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Wien; Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Literatur (Wien), Lehrbeauftragter am Institut für Germanistik der Universität Wien. Tätigkeiten als Herausgeber, Ausstellungskurator sowie als Konzipient und Moderator zahlreicher literarischer Veranstaltungen; Forschungsgebiete: Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts, Literaturtheorie, Literatur und Medien; Publikationen: zahlreiche Aufsätze zur österreichischen Literatur nach 1945. Zuletzt erschienen: “Alte Meister, Schufte, Aussenseiter. Reflexionen über österreichische Literatur nach 1945” (Hg., Wien 2005); “Michael Guttenbrunner – Texte und Materialien” (Mithrsg., Wien 2005); “Bin ich denn wirklich, was ihr einst wart? Alexander Lernet-Holenia 1897–1976” (Hg., Riverside 2006)