Zur Problematik des Avantgardebegriffs
In Reflexion der Referate und Diskussion dieses Symposiums – wie auch als eine Art Response dazu – möchte ich nochmals auf den Avantgardebegriff zu sprechen kommen, insbesondere auf dessen Anwendbarkeit auf die „Wiener Avantgarden zwischen 1945 und 1975“. Ich verstehe meinen Beitrag als Plädoyer für einen vorsichtigen und differenzierten Umgang mit diesem Begriff sowie vor allem für dessen präzise Hinterfragung im jeweiligen Einzelfall.
Immer wieder wurde hier Avantgarde mit „avancierter“ Kunst gleich gesetzt. Das kann nur unzulänglich sein, lässt es doch die Frage nach Kriterien offen. Ab welchem Punkt ist eine Kunst „avanciert“ genug um Avantgarde zu sein?
Eine weitere Definition ist bekanntlich jene von Peter Bürger, der den Avantgardebegriff ausschließlich auf jene Kunst angewendet haben will, die gesellschaftsverändernde, also ins politische gehende Ansprüche erhebt. In diesem Zusammenhang fällt sehr oft das Schlagwort von einer „Überführung der Kunst ins Leben“ – ein äußerst problematisches Schlagwort, das nur allzu oft undifferenziert und unreflektiert verwendet wird. Präziser wäre es, von der Intention der Kunst zu sprechen, gesellschaftlich wirksam zu werden oder zumindest von einer Reflexion über ihre gesellschaftlichen Wirkmöglichkeiten bzw. einem konkreten intervenierenden Handeln bestimmter Künstler. Wirklich im Leben „aufgelöst“ wurde die Kunst meines Wissens nie.
Interessanterweise nie verwendet wurde in diesem Symposium der Begriff „Moderne“, obwohl er oft für jene Manifestationen gebraucht wird, die diesen „ins Leben überführenden“, unmittelbar politischen Anspruch nicht erheben, also im Feld der Kunst bleiben und deren Autonomie nicht aufheben wollen. Die Manifestationen der Moderne und der Avantgarden (im Bürger’schen Sinne) teilen in der Regel den utopischen Charakter ihrer Ansprüche und Postulate, weshalb diese Begriffe auch nicht selten synonym verwendet. Daraus ergibt sich insofern wieder ein anderer Definitionsansatz, als man Avantgarde (oder Moderne) auch über Ihrem Gegensatz zu Postavantgarde bzw. Postmoderne definieren kann.
Letzteres sind wieder zwei unglückliche Begriffe, insofern als ihr Präfix „post“ ein „nachher“ also eine zeitliche Abfolge impliziert – die Postmoderne käme demnach nach der Moderne -, was zumindest bei jener Sichtweise, der ich anhänge nicht unbedingt geben sein muss:
Dieser zufolge sind die Ismen der Avantgarden und Moderne bestimmt vom Anspruch der Errichtung (künstlerischer) Denksysteme, die auf Stimmigkeit in sich angelegt sind, – ähnlich klassischen Philosophien, als Konzepte mit Lösungsvorschlägen, die ein „Besser und Richtiger“ anbieten, und damit einem Fortschrittsglauben unterliegen und sich als Beiträge zum Aufbau einer „besseren“ oder zumindest „richtiger verstandenen“ Welt begreifen.
Die Postavantgarde (oder Postmoderne) hingegen erachtet solche Ansprüche vonvornherein als uneinlösbar und erkennt, dass jeder derartige Ansatz auf letztlich willkürlichen Annahmen beruhen muss. Ihre Herangehensweise wird vielmehr von einer grundsätzlichen Bereitschaft zum Zweifel bestimmt, ebenso wie einem Bewusstsein für Ambiguitäten. Sie zielt nicht nur auf die Dekonstruktion sich absolut setzender Denkansätze, sondern behält stets auch eine kritische Distanz zum eigenen Tun und begreift jegliche Aussagen oder Behauptungen – auch die eigenen – als relative, von Vorgaben und Kontexten abhängige. In der Kunst ist daher etwa Medienreflexivität nicht selten ein Aspekt einer postmodernen Herangehensweise.
Eine solche Unterscheidung muss kein Epochebegriff sein. Die Postmoderne beginnt nicht in den 1960er, 1970iger oder 1980er Jahren, sondern diese unterschiedlichen Herangehensweise gibt es schon früher. Gerade jetzt, wo man den Konzepten der Moderne immer skeptischer gegenüber steht, schärft sich das Bewusstsein für kritische Gegenpositionen zu ihr. Solche hat es immer wieder gegeben. Sie wurden nur oft übersehen bzw. abgelehnt oder unterbewertet, was man heute in einem neuen Licht sieht.
Wenn man jetzt unter diesem Gesichtspunkt genau auf den Einzelfall schaut, – wofür ich ja plädiere – so möchte ich in Bezug auf die österreichischen Avantgarden zwischen 1945 und 1975 an den Vortrag von Verena Krieger anschließen, der mir sehr gut gefallen hat.
Sie hat den Ansatz von Hermann Nitsch auf einer strukturellen Ebene mit jenem von Valie Export verglichen. Unter dem Blickwinkel des Gegensatzes von Moderne und Postmoderne wäre man ja geneigt Nitsch’ Gesamtkunstwerk-Konzept des Orgien Mysterien Theaters mit seinem Postulat der Erreichung von Abreaktion durch direkte und tabufreie Konfrontation mit intensiven sinnlichen Erfahrungen als ein klassisches utopisches Konzept der Moderne zu sehen, das auf eine „Verbesserung des Menschen“ – und damit auch der menschlichen Gesellschaft – abzielt. Es stünde somit im Gegensatz zu Valie Exports medienreflexiver wie auch Geschlechterkonstruktionen gegenüber kritischer Position, deren Relativierungen und Hinterfragungen als postmodernes Vorgehen anzusprechen wäre. Bei genauerer Betrachtung widerspricht dem aber etwa Nitsch’ versatzstückhafter und Äquidistanz einnehmender Umgang mit Motiven und Konzepten bestehender Religionen quer durch Zeiten und Kulturen. Er unterliegt eindeutig einer „postmodernen“ Herangehensweise. Gleiches gilt etwa auch für den unter anderem bei Günter Brus und Otto Muehl anzutreffenden dekonstruktiven Umgang mit Geschlechtlichkeit. Im Wiener Aktionismus wurde sehr wohl auch männlicherseits erwogen, was es etwa für die Welt- und Gesellschaftserfahrung bedeuten würde, wenn der eigene Körper anders ausgestattet wäre. (Johanna Schwanberg hat im Hinblick auf Brus darüber referiert.) Der oft vorschnell den Utopien der Moderne zugerechnete und so als Avantgarde-Bewegung gesehene Wiener Aktionismus vereint demnach also durchaus Züge von Moderne und Postmoderne. Ähnliches ließe sich auch hinsichtlich der Wiener Gruppe konstatieren.
In diese Kerbe des gleichzeitigen Vorhandenseins polarer Positionen in einem künstlerischen Entwurf schlägt Dieter Bogner bekanntlich schon lange mit seinem wiederholt dargelegten Verweis auf das in der Österreichischen Kunst seit der Jahrhundertwende so oft anzutreffende „entweder/und oder“.
Dies bringt mich noch zu einem weiteren Aspekt, der im diesem Symposium nie angesprochen wurde, nämlich dem Bezug zu den künstlerischen wie intellektuellen Leistungen im Wien der Jahrhundertwende. Man hat ja oft von der damaligen Kunst gesagt, sie wäre nicht avantgardistisch gewesen, dabei lässt sich auch deren teilweise „Anti-Modernität“ heute – unter verändertem Blickwinkel – wieder anders sehen und man kann in vielem Züge von Moderne und Postmoderne vereint erkennen. Es ist hier auch nicht zur Sprache gekommen, welch wesentliche Grundlagen Österreichische Denker wie Freud, Wittgenstein oder der Wiener Kreis nicht nur für die lokalen sondern für die internationalen Entwicklungen nach dem Krieg geliefert haben, wobei auch vieles davon, wie etwa die Österreichische Tradition der Sprachkritik, als Wegbereiter (oder vielmehr wesentliche Vertreter!) postmoderner Ansätze zu gelten hat.