Modernismus, Avantgarde und Lokalität – Wien in den Zeiten der Mäßigung nach 1945
Die österreichische Avantgarde hat ihre Geschichte unübertrefflich selbst geschrieben. Gerhard Rühms Vorwort für den 1967 erstmals erschienen Band zur Wiener Gruppe erschließt Ereignisse, Strukturen und Verfahren in einer Weise, die nur aus der seltenen Synthese von intimer Kenntnis und Sicherheit im Konzepts möglich ist.
Es gibt keinen Grund, die Aufrichtigkeit und das Zutreffende dieser Erinnerungen in Frage zu stellen. Dennoch wäre zu fragen, ob dieser und andere autobiografischen Texte eine sichere Spur für die Auseinandersetzung mit dem Geschick der Wiener Avantgarden nach 1945 bieten, ob die in diesen Texten fokussierte kulturpolitische Dimension auch schon den Zugang zur Sondierung und Qualifizierung der künstlerischen Konstellation eröffnet. Zunächst wären die Texte selbst näher zu bestimmen: Als essayistische Versuche, zwischen äußerem Tatsachenbericht, intellektueller Selbstreflexion, Künstlermanifest und dem eigenen ästhetischen Verfahren zu vermitteln, müssen sie Begriffe und Strukturen voraussetzen, die aus einer anderen Beobachterperspektive wieder nach Differenzierung verlangen. Gerhard Rühm ETWA strukturiert seinen Text entlang einigerer traditioneller Topoi der Bohème, in der künstlerische Innovation mit einem anti-bürgerlichen Habitus und politischem Radikalismus in eins fällt. Darauf entfaltet sich ein semantisches Feld, in dem modern, avantgardistisch, fortschrittlich, links konnotiert werden können. Der modernen Kunst wird auf diese Weise nochmals implizit das revolutionäre Potential bestätigt, das die historischen Avantgarden in Anspruch genommen haben. In Paranthese möchte ich aber anmerken, dass Gerhard Rühm bei seinen luziden Erläuterungen der unterschiedlichen künstlerischen Richtungen in Wien ganz selbstverständlich die historischen Avantgarden, so sie darauf Einfluss nahmen, als Stil- und Ideengemeinschaften, als –ismen, gegeneinander abhob. Dennoch sind wir in dem Text mit der Universalisierung der gesellschaftlichen Avantgardefunktion der Kunst konfrontiert, deren Geschichte sich vor allem als Beschreibung ihrer lokalen Ausprägungen bzw. der Gründe ihres Scheiterns vollziehen lässt.
Mit der Bestimmung der Textsorte ist selbstverständlich zunächst noch nichts Entscheidendes gesagt. Im Gegenteil: Rühms Text wird zum herausragenden Zeugnis einer empirischen Realität, das die Eigenwahrnehmung der Akteure plausibel mit ihren Praktiken verknüpft. Andererseits muss diese Wahl dazu führen, die Selbstreferenz zur Grenze gegenüber einem undifferenzierten gegnerischen Außen aufzurichten, gegenüber etwas das vielleicht mit „Atmosphäre“ zu bezeichnen wäre, in der sich die eigene künstlerische Aktivität zu entfalten hatte. Dem gegenüber wäre vor dem Hintergrund eines fundamentalen Wechsels im Diskurs über die moderne Ästhetik ein gesellschaftlicher Bezugsrahmen zu entwickeln, der die Anschlüsse zwischen der Selbstreferenz und dem Umgebungsmilieu aufhellt.
Zu Beginn möchte ich deshalb auf 2 Begriffe eingehen, die hier strukturell wertvoll sein können, auf den Begriff des Raumes und denjenigen der Politik des Ästhetischen.
Die Frage des Raumes scheint mir für das Thema essentiell, sofern die Annahme einer genuinen Wiener Avantgarde sowohl einen strikten Bezug zu einem Ort wie eine Differenz zu anderen Orten impliziert. Beide Ebenen zugleich zu berücksichtigen ist keine einfache Operation, weil dafür auch kaum entwickelte Denkmodelle zur Verfügung stehen. Dennoch scheint es mir fast unvermeidlich, dass ein nicht geschärfter Vergleich mit anderen Orten das Urteil über die lokalen Richtungen, z.B. ihr Gelingen oder ihr Misslingen, grundlegend beeinflusst. Hier meine ich wären Präzisierungen nötig. Umgekehrt kann die singuläre Perspektive auf das lokale Beziehungsgefüge zu einer vereinfachenden Dichotomie führen, die beispielsweise in der Überanstrengung der Rolle der Tradition liegen kann.
David Harvey widmet diesem Problem in seinem Buch „The Condition of Postmodernity” einige basale Überlegungen. Er spricht von einer Geografie des Modernismus, die eine ständig wechselnde Verteilung von künstlerischen Zentren und Provinzen hervorbringt, zwischen denen dennoch ein kontinuierlicher Austausch vor sich geht. Harvey stimmt mit Bradbury und McFarlane in der Auffassung überein, dass ein mit politischen oder ökonomischen Kräfteverhältnissen nicht zwingend korrelierendes Kräfteverhältnis zwischen den, im übrigen meist, aber nicht zwingend urbanen künstlerischen Zentren besteht. Im Mittelpunkt dieses Kräfteverhältnisses steht die Fertigkeit von einzelnen Künstlern oder Künstlergemeinschaften, auf eine kollektive Erfahrung zu reagieren und ihre einen neuen, transnational registrierten Ausdruck zu geben, auch wenn diese Erfahrung selbst wieder die Weiterverarbeitung einer andernorts gefundenen Idee oder eines Kunstwerkes ist. Dennoch impliziert diese Sicht ein marktwirtschaftliches Paradigma, nämlich jenes der Konkurrenz, das in der Debatte über das Ende der internationalen Vormachtstellung von Paris klar zum Ausdruck kommt. Darin wird die Auszeichnung Robert Rauschenbergs mit dem Großen Preis der Biennale von Venedig 1964 dem Bedeutungsverlust der sogenannten „Ecole de Paris“ um de Stael, Manessier und Poliakoff gleichgesetzt, die dennoch nur eine allegorische Figur des Kunstzentrums Paris ist, denn der „Ecole de Paris“ stehen bereits seit Ende der 1940er Jahre die als Bewegung noch nicht definierten „Neuen Realisten“ gegenüber. Man müsste also, wenn man über Kunstzentren spricht, auch die steuernde Funktion des Kunstmarktes und seiner Institutionen beachten.
Das räumliche Bild einer „international balance of cultural power“ nimmt den Begriffen der Moderne und der Avantgarde einiges jener Dramatik, die sich aus ihrer vorrangigen Verknüpfung mit der Kategorie der Zeit ergeben. Die Rückführung einer als total gedachten ästhetischen Bewegung in das Geflecht, das einzelne ihrer Zeichensysteme unter einander und in Verknüpfung zu einer genuinen Ökonomie der Kunst eingehen, lässt gegenüber dem Maßstab der Aktualität das gemeinsame Dauerhafte auch mit einander konkurrierender Richtung hervortreten. Jacques Rancière hat dafür den Begriff des „Ästhetischen Regimes der Kunst“ vorgeschlagen. Gemeint ist damit die Entbindung der schönen Künste von den Vorschriften, die einem Gegenstand eine angemessene Darstellungsform zugewiesen haben. An ihre Stelle tritt die freie Kombination von Gegenstand, Material und Form, die durch eine neue Instanz, nämlich den Diskurs der Ästhetik, als Kunst identifiziert wird. Der Inhalt dieses Diskurses ist, wie Rancière analysiert, nicht die Erstellung eines neuerlichen Registers der werksimmanenten Qualitäten, sondern die Zusammenführung von Sinnlichkeit und Intellekt zur Formung einer kollektiven Wahrnehmung. Die Ästhetik als Diskurs zur Identifizierung der Kunst schließt deshalb den Bezug auf eine kommende Gemeinschaft ein, emphatisch spätesten in der deutschen Romantik. Rancières Argument bedeutet, dass die unbestimmbare Übereinkunft von Lebensformen und Kunstformen nicht Gegenstand der Kunst und der Kunstkritik selbst sein kann, sondern kontrastierende Politiken des Ästhetischen, wenngleich auf gemeinsamer Grundlage, hervorruft. Die Pointe, auf die Rancières Ausführung zuläuft ist in unserem Themenzusammenhang, dass der Begriff der Avantgarde auf zwei völlig gegensätzliche Konzepte angewendet werden kann. Das wären einmal diejenigen Avantgarden, die durch die Veränderung der Formen der Kunst diese zum Instrument des Aufbaus einer neuen Welt bzw. der kommenden Gemeinschaft machen wollen. Zum anderen wären das jene Avantgarden, die gerade umgekehrt in der äußersten Verteidigung des Kunstwerkes gegen die Vermischung mit dem empirischen Leben die einzige Möglichkeit zur Rettung wenigsten der Idee einer künftigen Gemeinschaft erblicken. Allerdings spricht einiges dafür, für letztere den Begriff Modernismus zu verwenden.
Nehmen wir Paris und seine Behauptung als Gravitationsort der kulturellen Moderne nach 1945 als Ausgangspunkt, so finden wir dafür 3 hauptsächliche Argumente. Mit dem Existenzialismus stand eine dominante Philosophie zur Verfügung, an die unterschiedliche Künste wie die Literatur, die Malerei oder die Musik anschließen konnten und die diese auch öffentlich identifizierbar machten. Die Künste im Umfeld des Existenzialismus hatten in Saint-Germain einen Ort okkupiert, der mit seinen Restaurants, Cafés, Nachtclubs, Galerien, Hotelbars und Theater zugleich dicht und vielfältig war. Noch von der Resistance her ging ein substantielles Freiheitsgefühl aus, das die Gegenwart als Teil der Zukunft, das heißt als Neubeginn erscheinen ließ. Die Künste, zu denen selbstverständlich auch die Chansons von Juliette Greco und Jacques Prevert zählten, rückten in eine Öffentlichkeit ein, in der sie – durch die Klammer der existenzialistischen Identifizierung – als eine gesellschaftsverändernde Kraft wahrgenommen wurden, auf die selbst die isolationistische Kommunistischen Partei Frankreichs reagieren musste.
Die paradoxe Situation in Wien war die, dass der Neubeginn nach der Niederlage des Faschismus mit der Rückkehr zur Vergangenheit verknüpft wurde. Lassen sie mich an dieser Stelle auf ein Zitat zurückgreifen, das diesen Umstand plastisch werden lässt. Es stammt vom Schriftsteller Alexander Lernet-Holenia aus dem Jahr 1945. „In der Tat“, schrieb Lernet-Holenia in einem Brief an die Kulturzeitschrift „Der Turm“, „brauchen wir nur dort fortzusetzen, wo uns die Träume eines Irren unterbrochen haben, in der Tat brauchen wir nicht voraus-, sondern nur zurückzublicken. Um es vollkommen klar zu sagen: wir haben es nicht nötig, mit der Zukunft zu kokettieren und nebulose Projekte zu machen, wir sind, im besten und wertvollsten Verstande, unsere Vergangenheit, wir haben uns nur zu besinnen, dass wir unsere Vergangenheit sind – und sie wird unsere Zukunft werden. Auch das Ausland wird kein eigentlich neues, es wird, im Grunde, das alte Österreich von uns erwarten, wiederum den Staat also, der, mag er inzwischen auch noch so klein geworden und mit dem Weltreiche von einst dimensionär gar nicht zu vergleichen sein, das Prinzip der Nationalität zugunsten seiner Kultur, seiner Lebensart und seiner politischen Tradition längst aufgehoben hatte und wiederum aufheben wird.“ (Musner, S.741/42) Ich bringe dieses Zitat nicht, um einen auch formal konservativen Schriftsteller wegen seiner grotesken Dialektik zu denunzieren. Interessant ist die Aussage deshalb weil sie etwas wiederholte, was von zwei unzweifelhaften Repräsentanten der Wiener Moderne, nämlich Hugo von Hofmannsthal und dem halb vergessenen Robert Müller geradezu programmatisch vorgedacht worden war. Beide hatten sich hervorgetan mit der Analytik einer genuinen österreichischen Seinsart, die kulturmorphologisch auf ethnische und geschlechtliche Hybridität rekurrierte. Schon damals, mitten im Ersten Weltkrieg, sollte die Vermischung von Weiblichem und Männlichem, von mediterran-katholischer Sinnlichkeit und nördlicher Rationalität, von slawischem Temperament und alpiner Gemessenheit eine entscheidende und politisch fruchtbar zu machende Differenz gegenüber dem Deutschen Reich ausmachen. Sie finden diese Hypothese, aufs Lokale übertragen, im übrigen auch in Hans Tietzes großartiger Geschichte Wiens aus 19.. Ich brauche hier nicht über die strategische Bedeutung sprechen, die der Übernahme dieses kulturmorphologischen Konzeptes und seiner Stilisierung zum Begriff der „Österreichischen Nation“ nach 1945 zugekommen ist. Ich möchte vielmehr den Durchbruch des Begriffs als regulative Idee auch der gesamten Kunst- und Kulturpolitik in den Effekten auf jene Künstler zur Diskussion stellen, die mangels einer anderen Bezeichnung zeitgenössisch als „die jungen“ angesprochen wurden. Um es in einer einzigen These zu formulieren: Sie mussten nicht nur mit der verschleiernden und normierenden Ideologie des „österreichischen“ zu recht kommen, das die kulturelle Vergangenheit als Identitätspolitik benutzte, sondern sie hatten sich gleichzeitig der Ambivalenz der lokalen Tradition der Moderne zu konfrontieren. Um es nochmals anders zu sagen: gerade weil die Politisierung der Vergangenheit und der Künste im Zentrum des staatlichen Selbstverständnisses lag, weil, in Rancières Begriffen, eine Rückbewegung zum „repräsentativem Regime der Kunst“ drohte, waren sie auf eine die Simplifizierungen und Kanonisierungen revidierende Interpretation der Vergangenheit verwiesen.
Das zuvor gebrachte Argument über Saint-Germain als Territorium der Pariser Avantgardisten und Modernisten legt allerdings die Frage nach dem entgegenwirkenden Potential einer hypothetischen Wiener Urbanität nahe. Auf einer deskriptiven Ebene lassen sich zahlreiche Indikatoren sammeln, die von den äußerst restriktiven Rahmenbedingungen sprechen. Ich will ihnen einige Stichworte dazu geben:
– Durch die Kriegszerstörungen hatten 270.000 Menschen ihre Wohnungen verloren und ein erheblicher Teil der kommunalen Infrastruktur lahm gelegt. Erst 1954 erklärte man offiziell des Ausnahmezustand des Wiederaufbaus für beendet
– Mit der Vertreibung und Vernichtung der Wiener Juden ging der Stadt ein essentieller Teil ihrer intellektuellen und ökonomischen Eliten verloren
– Wien war einem langen Trend der Überalterung und der Bevölkerungsabnahme ausgesetzt; gegenüber 1900 hatte sich 1951 die Zahl der unter 14jährigen auf die Hälfte verringert und die der über 65jährigen vervierfacht
– Die Versorgungslage war in den ersten Nachkriegsjahren katastrophal. 70% der Schulkinder von 1947 galten als unterernährt, und erst 1953 konnten die Bewirtschaftung von Lebensmitteln durch behördliche Bezugsscheine aufgehoben werden
– Als sogenannte Frontstadt im Kalten Krieg wurde Wien zumindest bis 1955 von ausländischen Investoren und internationalen Organisationen gemieden
– Innerhalb Österreichs setzte sich der bereits unter den Nationalsozialisten begonnene Trend der Abwanderung von Industrie und produzierendem Gewerbe fort.
Wien hatte seine Metropolenfunktion und seine urbanen Eigenschaften verloren. Die ökonomischen und sozialen Faktoren sind aber vielleicht nicht das entscheidende, wenn wir nochmals auf die „balance of cultural power“ zurückkommen. Der Modernismus als künstlerische Reflexion einer gegebenen lokalen Konstellation und deren hegemonialer Kräfte braucht, um sich zu dieser Distanz zu verschaffen, die Kommunikation mit einem Außen oder Anderem. Für Paris waren es die algerischen und afrikanischen Immigranten, die Intellektuellen aus den Kolonien, die eine fundamentale Differenz in der Gesellschaft markierten, für London die karibischen und indischen Zuwanderer, die die Präsenz eines Anderen sinnfällig machten, sei es auf der Ebene von Subökonomien, der Ethnifizierung von Stadtteilen, von Konflikten. Vor allem aber wäre die Rolle dieser Subkulturen als Avantgarde von Lebensstilen, die moralischen Konsens herausfordern, zu beachten. Exemplarisch dafür ist das emphatische Bekenntnis zur Adaption afroamerikanischer gegenkultureller Codes durch das antikonformistische weiße Amerika, das Norman Mailer 1957 in einem Essay mit dem Titel „The White Negroe“ abgelegt hat. Ich möchte aber auch daran erinnern, welch ausschlaggebende Rolle die Auseinandersetzung mit der sogenannten „primitiven Kunst“ für die Theorie und die Produktion der historischen Avantgarden hatte. (Vielleicht müsste man überhaupt auch noch einmal die essentielle Bedeutung des verordneten oder frei gewählten Exils für das Entstehen der historischen Avantgarden überprüfen.)
Die Fremden, selbst die allegorische Figur des Fremden war mit dem Nationalsozialismus aus Wien verschwunden. Von den 1,616 Millionen Einwohnern 1951 gaben 1,608 Deutsch als Umgangssprache an. Die nach der Staatszugehörigkeit größten Gruppen der Tschechoslowaken, Italiener, Jugoslawen und Griechen umfassten nicht mehr als 1.000 bis 1.800 Personen. Hinter der vergleichsweise großen Zahl von 32.000 Personen ungeklärter oder unbekannter Staatszugehörigkeit stehen die sogenannten displaced persons, die sich zu nicht geringen Teilen aus Angehörigen der vertriebenen deutschen Minderheiten in Osteuropa und aus Überlebenden der Konzentrationslager zusammen setzten. Während die Biopolitik und die Kriegspolitik der Nationalsozialisten die Diversität Wiens eliminierte, nahmen die Anderen die Gestalt des Feindes an. Ich meine damit die sowjetischen und die Soldaten der westlichen Alliierten. Auch dort, wo wie im Falle der GI´s eine imaginäre Besetzung und eine symbolische Identifizierung innerhalb begrenzter sozialer Milieus konstatiert werden kann, führte die Präsenz des Anderen nicht zu jener Mimikry, die Norman Mailer am „White Negroe“ fasziniert hat, sondern – vor allem auf der Ebene der Musik – zur Assimilation eines Stils an die eigene Tradition. Aber auch dafür hat es schon Vorbilder der lokalen Tradition der Moderne gegeben, nämlich Ernst Kreneks sogenannte „Jazz-Oper“ „Jonny spielt auf“.
Modernismus und Avantgarde unterhalten eine affektive Beziehung zur Modernisierung. Roland Barthes würdigte den Citroen D.S.9 mit den Worten: „Ich glaube, dass das Auto heute das genaue Äquivalent der großen gotischen Kathedralen ist … eine große Schöpfung der Epoche, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern erdacht wurde und die in ihrem Bild, wenn nicht überhaupt im Gebrauch von einem ganzen Volk benutzt wird, das sich in ihr ein magisches Objekt zurüstet und aneignet … Es handelt sich (bei der Déesse) um eine humanisierte Kunst …“ Die Auseinandersetzung mit der neuen Massenkultur, die zur Entstehung der Pop-Art zuerst im London der „Independent Group“, dann in Paris und New York geführt hat, ist unter einem doppelten Aspekt von Interesse. Zum einen weil es schwer zu entscheiden ist, ob es sich bei der Pop-Art um eine kritische oder um eine affirmative Kunst handelt, oder um eine künstlerische Praxis, die diese Unterscheidungen überhaupt hinfällig gemacht hat, so wie ja auch Roland Barthes Analyse eine zuvor fundamentale Unterscheidung von Kunstwerk und Alltagsgegenstand aufgehoben hat. (Allerdings indem er ästhetische und nicht soziale Kategorien zum Einsatz brachte.) Zum zweiten, weil sich darin auch die ironische Reflexion der durch ihre Teilhabe an der Hervorbringung der Warenästhetik kompromittierten historischen Avantgarde ausdrückte. Andrerseits kann kein Zweifel bestehen, dass nach 1945 die gesellschaftliche Konsumtion von mit ästhetischem Mehrwert aufgeladenen Massengütern zur Legitimation der Politik und der gesellschaftlichen Verteilungen geworden ist. Ich möchte dies ganz plakativ mit Hegemonie des fordistischen Regimes bezeichnen. In Österreich und in Wien im speziellen zeigte dieses Regime einige Besonderheiten, die ich in Stichworten fassen will.
– eine gesteigerte Disziplinierung, die Abweichungen von der sogenannten Leistungsethik streng ahndete. (Nie saßen, wie Marina Fischer-Kowalski dargelegt hat, so viele Jugendliche in Gefängnissen und Erziehungsheimen wie in den 1950er Jahren)
– eine neue Raumpolitik, die mit Suburbanisierung und Entmischung auch die urbane Dichte auflöste. (Man denke nur an Wiener Renommierprojekte wie die 1947 begonnene Per-Albin Hansson Siedlung)
– die Regulierung der Gesellschaft durch den sogenannten Technokorporatismus, der Unternehmen, Gewerkschaften, staatliche Bürokratie, die beiden Großparteien, die Regierungen und Planungsexperten zu einer stabilen Allianz verschmolz. (Ihre Entschlossenheit zeigte diese Allianz ein für alle mal bei der Niederschlagung der Massenstreikbewegung vom Herbst 1950)
– Die weitestgehende Kontrolle der öffentlichen Meinung durch staatliche Monopole und die Parteienpresse.
Für das Thema der Massenkultur und der Warenästhetik scheint mir diese Konstellation aus mehreren Gründen beachtenswert. Österreich, und Wien im besonderen, da es von der Verlagerung der neuen Industrien nach Westösterreich betroffen war, wies bis in die 1970er Jahre einen signifikanten Rückstand gegenüber den europäischen Industriestaaten sowohl in den Produktionsdaten wie in den Dienstleistungen und im Konsum auf. Die „consumer culture“, die eine Reihe von Vermittlungen wie Design, neue Distributionsstrukturen, Wissensproduktion und Werbung benötigt, blieb unentwickelt bzw. wurde als Schwachstelle der Steuerung von Modernisierungsprozessen debattiert. Einen Teil der Erklärung wird man auch in der Struktur der österreichischen Unternehmen suchen müssen, die überwiegend Staatseigentum waren und Industriegüter auf lange etablierten internationalen Geschäftsbeziehungen vertrieben. Während in weiter vorgeschrittenen Staaten Institutionen des Konsumentenschutzes eingerichtet wurden, um der Macht der großen Konzerne zu begegnen, starteten die Organisationen des Technokorporatismus in Österreich pädagogische Kampagnen der sogenannten Konsumentenerziehung, die veraltete customer relationship, das heißt die auf Familientradition basierende Bindung an kleingewerbliche Unternehmen aufbrechen und das Kaufverhalten rationalisieren sollten. Der Stil- und Wahllosigkeit lokaler Werbung, die diesem Zustand korrespondierte, sollte eine Ästhetisierung vor allem der visuellen Werbemittel entgegengestellt werden. Oder wie es 1954 der damalige Handelminister Illig forderte: gemäß der österreichischen Eigenart sei die Synthese von künstlerischen und wirtschaftlichen Zielen herbeizuführen. (Plakat. Österreichische Werberundschau Nr.1/1954) Der Massenkultur und der Warenästhetik wurde mit zahlreichen öffentlich gesponserten Initiativen das heterotopische Potential genommen, das sie für die historischen Avantgarden, aber auch für den Modernismus gehabt haben, wenn wir an Peter Behrens und die AEG oder an das Werbebüro des Bauhauses denken.
Ich möchte damit nochmals auf Gerhard Rühm zurückkommen, der einmal mit Bezug auf das Umfeld der „Wiener Gruppe“ seine Definition des Wienerischen abgelegt hat. Rühm nannte es „die gleichsetzung des makabren mit dem poetischen“, also in meiner Übersetzung: die Verwendung von Sedimenten des grotesken Barock für aktuelle Zwecke. Ich würde dafür, für diese Nähe zu den delegitimierten popularen Kulturen, den Begriff der Transgression heranziehen und wäre interessiert zu prüfen, ob er als Adjektiv zur Charakterisierung einer Wiener Avantgarde nach 1945 taugt. Aber ich bin überzeugt, dass ich ihn am Ende dieser Veranstaltung wieder verwerfen werde müssen.
Siegfried Mattl, Univ. Doz. Dr., Historiker, Wissenschaftlicher Leiter des Ludwig Boltzmann- Instituts für Geschichte und Gesellschaft. 1986 Lektor, 1995 Dozent am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: Wiener Moderne, Medien und Medientechnologie, Urbanismus. Schwerpunkte in der Lehre: Methoden und Theorien der Historiographie, Stadtgeschichte, Kulturgeschichte. Mitarbeiter der Fachzeitschriften “zeitgeschichte” und “International Review of Social History”. Publikationen (Auswahl): Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft. (Hg. gem. m. Elisabeth Timm und Birgit Wagner 2007). Zahlreiche Aufsätze zur Zeitgeschichte, Stadtbild und politischer Inszenierung.