“Wirklichkeitsinterventionen”. Performative Provokationsästhetiken der Wiener Gruppe als Reaktion auf das starre kulturelle Klima der Nachkriegszeit
Die Wiener Gruppe mit ihren Mitgliedern H.C. Artmann, Friedrich Achleitner, Gerhard Rühm, Konrad Bayer und Oswald Wiener wird, obwohl spätestens seit der Biennale von Venedig 1997 das visuelle Werk und die Aktionen einer breiteren Öffentlichkeit bewusst gemacht wurde von der internationalen theaterwissenschaftlichen Forschung nicht vorrangig mit Theater in Verbindung gebracht. Das mag damit zu tun zu haben, dass sich die Wiener Gruppe Mitte der 1950er Jahre in Österreich und auch international am äußersten Beginn von sich neu ausbildenden Paradigmen am Theater befand. Ihre vielfältigen Innovationen für das Theater konnten sich damals nicht durchsetzen, zu sehr stemmten sich Publikum und kulturpolitische Öffentlichkeit gegen neue Wahrnehmungsweisen und zu sehr war das traditionelle Dialog- und Handlungstheater sowie das traditionelle Kabarett verankert. Obwohl die Suche nach einer neuen Theatersprache gar nicht das Ziel gewesen ist, fand die Künstlergruppe völlig selbstständig zu Formen, die man Jahrzehnte später als performative Ästhetiken bezeichnet.
Dieser Aufsatz konzentriert sich auf die performativen Qualitäten der Gruppe und sieht sie als kritische Reaktion auf das Politikfeld der 1950er Jahre. Das starre kulturpolitische System der Wiederaufbaujahre mit einem Klima, in dem eine Teilnahme an internationalen Entwicklungen und eine Auseinandersetzung mit den Avantgarden der Vergangenheit erschwert wurde, war gleichzeitig Anlass und Gegenstand ihrer künstlerischen Arbeit. Mit anarchischer Lust an der Provokation und unter “vermeidung von ideologien” – was bedeutet, dass sie sich nicht von einem der politischen Lager im Kalten Krieg vereinnahmen lassen wollten – zielten ihre Interventionen auf die neuralgischen Themen Theater und das ideologisierende Österreich-Bild. Auch die Formen der omnipräsenten Katholischen Kirche waren teilweise ein Ziel. Das wurde im Nachkriegsösterreich als unverschämt aufgefasst, die Künstler wurden übergangen und vor allem finanziell ausgehungert. Peter Weibel hält ihre “anti-etatistische und anti-autoritäre Haltung”, ihre “Kritik an Staat und Wirklichkeit durch Kritik an der Sprache” für ihr wichtigstes Vermächtnis. Möglicherweise ist der auf den ersten Blick ausschließlich österreichische Adressat ein weiterer Grund für die Absenz in der internationalen, vor allem bundesdeutschen theaterwissenschaftlichen Forschung. Zu Unrecht, denn die Wiener Gruppe hat für die nachfolgenden Generationen, wie Paul Pechmann kürzlich feststellte, “ein umfassendes Vokabular an Verfahrensweisen des nicht-mimetischen und anti-illusionistischen Theaters (hinterlassen), dessen sich das formal avancierte Drama bis heute bedient.”
Ihre programmatische Arbeitsweise im Kollektiv erwies sich nicht nur als zukunftsweisend, sondern war notwendig, um in den 1950er Jahren in Österreich ohne Netzwerke “ein labor und experimentierfeld” abzustecken. Aus unterschiedlichen künstlerischen Sparten kommend, entwickelten sie gemeinsam Ideen und Konzepte und praktizierten spielerisch Interdisziplinarität und Intermedialität. Bei ihren Auftritten waren sie Produzenten, Autoren, Regisseure und Darsteller in einem. In der Gruppe, in multipler, manchmal auch kollektiver Autorenschaft konnten sie der als bedrohlich und unkünstlerisch empfundenen Außenwelt begegnen. Sie gingen von der Literatur und vom herrschenden Kunstverständnis aus und kamen zu einem gattungsübergreifenden, intermedialen und performativen Ansatz: Montage mit Material aus allen damals verfügbaren Medien. Die angestrebte neue Ästhetik nahm das traditionelle Dialog- und Handlungstheater nicht zum Vorbild, sondern wollte seine Zerstörung: es war eine Absage an die bisherige Übereinkunft der Einheit von Drama, Handlung und Nachahmung und die Ablöse des Prinzips der psychologischen Einfühlung und des illusionären Rollenspiels. In dieser Radikalität gab es in den 1950er Jahren weder in Österreich noch international ein Pendant. Experimentelle Theaterformen in Europa begannen nach dem Zweiten Weltkrieg erst in den 1960er Jahren, in den USA ein Jahrzehnt früher. Die Präsentationsformen der Wiener Gruppe waren antimimetisches Theater, die nicht die Realität abbilden, sondern im Prozess, in der Situation, im Konzept und in der Aktion neue Wirklichkeiten schaffen wollten. Im Mittelpunkt stand das Ereignis und nicht das fertige Kunstprodukt. Strukturen und Elemente des Theaters wurden ausgestellt und sollten keine herkömmliche Bedeutung transportieren, sondern selbst-referenziell sein: “hier wird nichts vorgetäuscht, nichts beschrieben und nichts erzählt, es verhält sich so, wie es geschieht, und es geschieht jetzt und da, unter diesen oder jenen umständen (gegebenheiten). form und inhalt, darsteller und dargestelltes sind identisch. es ist immer gegenwart.”
Das ließ sich mit den Begriffen der damaligen Ästhetiken nur schwer fassen und überstieg die Toleranzschwellen einer im Austrofaschismus, im Nationalsozialismus und in der Österreich-Ideologie sozialisierten Kunstöffentlichkeit und eines Normalpublikum, das nach harmonisierender Werte und Bedeutungsvermittlung verlangte. Ebenso ratlos stand man der Ablehnung der traditionellen Fabel gegenüber:
“die fabel erscheint uns heute weitgehend verbraucht. geschehen begreifen wir so vielschichtig, dass eine fabel, die den komplex eines augenblicks auf nur einen aspekt banalisiert und nur eine richtung der zeitlichen aufrollung wahr haben will, unserem weltbild und daher auch unseren ästhetischen ansprüchen nicht mehr adäquat ist.”
Die Mitglieder der Wiener Gruppe wollten den radikalen Bruch mit der traditionellen Kunstauffassung und fassten, wie Hubert Klocker (1998) feststellte, “Kunst als Repräsentation gesellschaftlicher und politischer Wirklichkeits- und Verhaltenssysteme” auf und versuchten “in deren Kommunikationsprozess zu intervenieren” . Genau dieser Zusammenhang wurde in der Zeit der Wiederaufbaujahre von den politisch Tonangebenden verschleiert, obwohl gleichzeitig ein starres kulturpolitisches Bezugssystem bestand, in dem Hochkultur funktionalisiert wurde. Der Versuch der Wiener Gruppe, Theater als Erfahrungs- und Verständigungsraum für die Infragestellung der damaligen gesellschaftlichen und künstlerischen Übereinkünfte zu nutzen und die bisherigen Wahrnehmungsgewohnheiten zu stören war bemerkenswert mutig. Analog zum zentralen gesellschaftspolitischen Stellenwert, den das Theater in Österreich in dieser Zeit noch einnahm, hatte die Wiener Gruppe eine starke Affinität zum Theater.
Allerdings ließ sie keinen Zweifel über ihre “verachtung für das theater”. Das herkömmliche psychologische Theater interessierte sie nicht, sondern der psychologische Moment im Publikum: “was muss man machen, dass man die und die psychologische Wirkung erzielt”. Während das amerikanische Happening der 1960er Jahre die Gegenüberstellung von Akteuren und Publikum für ein gemeinsames Erlebnis aufhob, verwendete die Wiener Gruppe bewusst die traditionelle Trennung von Spielern und Zuschauern zur Publikumsbeschimpfung. (So hieß dann auch Peter Handkes epochales Stück 1966.) Der Grundgestus war Provokation, eine Vorwegnahme des antiautoritären Aufbegehrens der Studentenbewegung. Die Avantgardisten sprengten die in den 1950er Jahren noch rigorose Grenze zwischen Hoch- und Trivialkultur. Im Durchkreuzen der Erwartung, dass auf der Bühne hohe, vom Alltag abgehobene Kunst stattfindet, während im Zuschauerraum passiv das gut gekleidete Publikum sitzt, bezogen sie ihr Spannungs- und Ideenpotential.
Die Wiener Gruppe parodierte einerseits die Erziehungsfunktion, die das Theater in den 1950er Jahren noch hatte und attackierte das Theater als bürgerliche Bastion. Bildungsbürgerlichen Schichten galt Theater als Ort des Rückzugs für schöne und edle Kunst, wo keine Experimente geduldet wurden und Auseinandersetzung welcher Art auch immer, abgelehnt wurde. Diese Gesellschaftsschicht sollte provoziert werden, vor allem, weil sie so dringlich nach Orientierung, Werten, Form und gutem Benehmen verlangte, hingegen Nichtbewältigtes und Verbrecherisches in Sprachhülsen zu kaschieren trachtete. Peter Huemer hat überzeugend dargelegt hat, dass in den 1950er Jahren “eine manische Sehnsucht” nach dem “guten Ton”, nach dem guten Benehmen herrschte. Er führt das er auf das Bemühen zurück, die faschistische und nationalsozialistische Vergangenheit einerseits durch Übersehen, Vergessen und Verdrängen zu bannen, andererseits die sozialen Abgrenzungen weiter zu erhalten.
Die Provokation war so groß wie die verfestigten Theateransichten und die damals noch starre gesellschaftliche Struktur. Die Lust, die heilige Kuh Theater zu schlachten, war in einem Land, in dem Hochkulturtheater zur nationalen Identität stilisiert wurde, unerhört provokant. Die Künstler der Wiener Gruppe verfolgten eine gemischte Strategie. Einerseits agierten sie in traditionellen Spielorten, wie im Intimen Theater, dem gut eingeführten Kabarett in der Liliengasse oder im Theatersaal im Porrhaus, Eigentum des Österreichischen Gewerkschaftsbundes und bis 1955 vom Sowjetischen Informationszentrum bespielt oder im Mozartsaal im Konzerthaus, der Hochburg der konservativen Abonnenten. Auf der anderen Seite richteten sie ihre Aktionen gegen Orte und gegen Einrichtungen des traditionellen Politikfeldes. Die Dramaturgie der Veranstaltungen fußte in dekonstruktiver Art auf der Irreführung der Erwartungen, die das Publikum in Genre und Spielort setzte. Es sollte “der Kulturbetrieb quasi mit seinen eigenen Waffen” geschlagen werden.
Im Theater behandelten die jungen Künstler die ZuschauerInnen mit einer bisher nie geübten Aggression. Sie traktierten sie “als gegenstand, in allen bedeutungen des wortes.” und verwarfen das im Theater normalerweise angestrebte auf Einverständnis zielende Spiel mit dem Publikum. Bayer verlangte “kontakt als waffe”. Tabus wurden gebrochen, insbesondere durch Respektlosigkeiten gegenüber der Hochkultur und Verstöße gegen das gute Benehmen. Die “verächtliche haltung dem beobachter gegenüber” ging in der Phantasie sogar so weit, “maschinengewehre und handgranaten einzusetzen, reinen tisch zu machen im parkett.” In der Praxis beließ man es bei Schreckschüssen ins Publikum und Knallerbsen im Zuschauerraum. Die Zuschauer sollten provoziert werden: “wir wollten uns das publikum genehmigen, und planten entsprechend einen progressiven zuschauerschwund ein”, schrieb Oswald Wiener über das 1. Literarische Cabaret; und ironisch über das 2.: “wir wollten diesmal die bühne so lange halten, bis wir den letzten zuschauer vertrieben hatten.”
Die Aggression richtete sich gegen jede verfestigte Erwartungshaltung und betraf auch AnhängerInnen von modernen Stücken: “die konsumhaltung des publikums wird so am gründlichsten zerstört, wenn man das absurde und wertvolle erwartend mit dem alltäglichen vertraut gemacht wird. aus der empörung des zuschauers darüber, daß ja gar nichts zu sehen sei, folgt die einzige gesunde reaktion” lautet Paragraph 1 in Bayers “anweisungen nach dem cabaret”. Ein Brief Bayers an die Schauspieler spielt auf das absurde und existenzialistische Theater an: “wir haben es nicht nötig künstlich für desillusionierung zu sorgen.” Das Publikum bekam zwar wie in jedem Theater einen Programmzettel, doch der so bezeichnete “waschzettel” sollte gar nicht weiterhelfen. In der für sie typischen Art verweigerte sich die Wiener Gruppe jeder Einordnung, Klassifizierung und Kritik und relativierte den akademischen Kunstdiskurs. So heißt es auf dem “waschzettel” des 2. literarischen Cabarets: “unsere akteure werden keine illusion anderer personen bringen (wie stanislawskis schauspieler), aber sie werden auch anderer personen nicht markieren (wie brecht darsteller), sie bleiben sie selbst, dennoch wird das publikum der illusion der darstellung verfallen: das ist falsch und beabsichtigt. (wir werden die maschen zur übermasche knüpfen).”
Der Verwirrung anstatt der Einordnung dienten auch die Begriffe der internationalen Theatermoderne mit denen die Wiener Gruppe herumwarf, wie “automatisiertes theater”, “entfesseltes theater”, “spontanes theater”, “totales theater”, denn die Künstler widersetzten sich auch diesen Vorbildern.
Die Österreich-Ideologie war ein weiteres Angriffsziel der Wiener Gruppe mit deren Versatzstücken jongliert wurde. Zu Beginn des 1. Literarischen Cabarets, 1958 versammelte sich das Ensemble vor dem geschlossenen Vorhang und spielte die Österreichische Bundeshymne auf slide whistle; “nach den ersten takten brüllten alle vor lachen”. Man erkannte die Parodie auf die staatstragende Repräsentationsfunktion des Theaters und traute sich die offiziellen Festakte in Burgtheater und Oper zu verlachen, die im Zuge der Staatsvertragsfeierlichkeiten noch nicht lange zurücklagen. Daniela Strigl hat darauf hingewiesen, dass der überwiegende Teil der ZuschauerInnen der Literarischen Cabarets aus dem Umfeld von KünstlerInnen und Intellektuellen kamen, die sich nicht provozieren ließen, sondern die Tabubrüche wie auf einem Atelierfest genossen. Die Provokation funktionierte allerdings beim Angriff in hochkulturellen Einrichtungen und vor allem auf das österreichische dialektale, als schön empfundene Sprechen.
Als H.C. Artmann 1997 mit der wichtigsten Auszeichnung der deutschen Literatur, dem Georg-Büchner-Preis, ausgezeichnet wurde, hieß es in der Begründung “er habe als erster nach dem Zweiten Weltkrieg an die poetischen Möglichkeiten des Dialekts angeknüpft und gezeigt, dass damit hervorragende Literatur zu machen sei.” Die Verwendung von nicht geschöntem Dialekt ist einerseits eine Reaktion auf die durch den Nationalsozialismus diskreditierten alten Sprachmuster, andererseits die Antwort auf die Dialektsprechsucht der Österreich-Ideologie. Konnte Artmanns Lyrik-Band “med ana schwoazzn dintn” noch einen überraschenden Erfolg erzielen, waren seine folgenden Arbeiten und die der anderen Gruppenmitglieder inhaltlich schärfer und formal sperriger. Der Leseabend mit Burgschauspieler Richard Eybner 1959 im Mozartsaal des Konzerthauses als aus dem Gedichtband hosn rosn baa von Artmann, Rühm und Bayer vorgetragen wurde, ist eine der bekanntesten Interventionen der Wiener Gruppe.. Gerhard Rühm beschrieb den Abend:
“solange eybner die unverfänglichen gedichte vortrug, ging noch alles gut, doch als die reihe an uns kam, entstand im publikum unruhe, die sich zu einem kleinen pfeifkonzert und rufen wie ‘in die gaskammer’, ‘kulturschande’ steigerte, einige besucher verliessen empört den entheiligten saal.”
Der Abend fand an einem Ort statt, wo üblicherweise der beliebte Lese-Zyklus “Die berühmte Stimme” mit bekannten BurgschauspielerInnen angesetzt war. Sowohl die Wahl des Ortes als auch die Wahl der Besetzung war keineswegs zufällig. Richard Eybner, der im Zuge des Verbotsgesetzes 1945 einige Zeit mit Auftrittsverbot belegt war, war einer jener Publikumslieblinge, die die gemütliche, idyllisierende Seite des dialektalen österreichischen Sprechens repräsentierten. Die gesamte Veranstaltung war ein Schlag ins Gesicht für diejenigen, die Kunst als Bastion bürgerlicher Elite verteidigten und sich im freundlichen wienerischen Dialekt und Tonfall an einem hübschen Selbstbild bespiegeln wollten: “der spießer fühlte sich hier wirklich auf sein wiener schnitzel getreten und reagierte dementsprechend beleidigt”, kommentierte Rühm. Die neue Dialektdichtung richtete sich gegen die Verlogenheit eines verharmlosenden Dialekts, wie er in den 1950er Jahren in Österreich gepflogen wurde und gegen das “Schönbrunnerisch”, der näselnden Aussprache und des singenden Tons der so genannten besseren Kreise. Indem die Wiener Gruppe mit den Klängen von Sprachlauten arbeitete und lustvoll das Sprechen rhythmisierte, entlarvte sie das Schön-Sprechen der BurgschauspielerInnen als “Wortmusik”. Dem verfälschenden und Inhalte zudeckenden Dialekt wurde ein Kunstdialekt entgegen gesetzte, der Unterbewusstes und Beunruhigendes aufzudecken imstande war.
“Seine wirklichkeitsnähe und unmittelbarkeit des ausdrucks (…) lässt die chance, durch neue gegenüberstellugnen der worte eine verfremdung und damit neubeweetung derselben zu erzielen.”
Neben sprachkritischen Interventionen, gab es “sprachlose”, die die Darstellung tabuisierter Bereiche beinhaltete. Die Klavierzertrümmerung ging als Vorwegnahme des Wiener und des internationalen Aktionismus in die Kunstgeschichte ein. Die Darstellung von Sexualität war in dieser Zeit tabu. Für die Nummer kuss und liebe im 2. Literarischen Cabaret war “erotisches geremmel” vorgesehen, simultan tierische Brunstgeräusche vom Tonband und ein Film über Holzfällen. Für das Stück dajetzt 1958 sahen die Autoren Rühm und Wiener vor: “ein sich restloses zurückziehen der schauspieler in die nacktheit. das stück endet sozusagen direkt vor dem geschlechtsakt.” Die Präsenz der Polizei verunmöglichte es damals weiterzugehen. Der Körper in seiner puren Körperlichkeit und nicht als Zeichenträger wurde bei den an Body-Building gemahnenden Auftritten von Bayer und Wiener provokant präsentiert und verweist heute auf die ein paar Jahre später beginnende internationale Body Art. Das “zeigen von begebenheiten”, ebenso das “vorzeigen von gegenständen” war ein Suchen nach “unverbrauchten codes”, um zu dem von Bayer verfolgten “sprachlosen Theater” als einer “dichtung aus körperbewegungen” zu kommen. Es gab Versuche, Objekte, aber auch Fotos und Filme, gleichberechtigt und intermedial neben den Akteuren zu präsentieren. Andere Versuche gingen in Richtung mechanisiertes und automatisiertes Gegenstands-Theater.
Neben der Variante eines “sprachlosen Theaters” verfolgte besonders Rühm eine neue Form des “Sprech“Theaters. Er versuchte der menschlichen Stimme und dem Sprechen eine neue Wertigkeit zu geben und ging als Experimentalmusiker an das Sprechen heran. Er wollte Tonhöhe, Lautstärke, Schallrichtung, Tonlänge, Tempo, Rhythmus, Klangfarbe, Ausdruck der menschlichen Stimme isolieren. Er suchte nach neuen Kombinationen von Einzelstimme, Chorsprechen und Gesang und bezog die Veränderung der Stimme durch Tonbandmanipulationen ein. Seine Versuche waren stets handlungsintendiert. Die “anregungen für ein schallplatten-funktionelles akustisches cabaret” verlangten Körpergeräusche, wie Zähneklappern, Brechgeräusche, Lachen, Weinen, Schmerzgeräusche, aber auch Musik- und Naturgeräusche. Das Dialektsprechen eröffnete weitere Felder. Die Wiener Gruppe konnte die Vielfalt an künstlerischen Möglichkeiten, die in den Sprech-Experimenten liegen, zu ihrer Zeit nicht adäquat umsetzen, denn diese erfordern einerseits hochartifizielle SprecherInnen andererseits neue Medien und Technologien, wie sie erst das Digitalzeitalter bietet.
Die Wiener Gruppe agierte auf dem Feld der Theatralität drei Jahrzehnte bevor theaterwissenschaftliche Theoriedebatten diesen Begriff aufbrachten, um theatrales Handeln außerhalb des Theatergebäudes in der Gesellschaft zu analysieren und theatrale Vorgänge als Bestandteile der Lebenspraxis zu sehen. Sie setzte auf die Aktivierung öffentlicher Räume und machte mehrfach die Wiener Innenstadt zum Schauplatz. Gerhard Rühms Idee, Theaterkarten für die Benützung der Straßenbahn zu verkaufen und die Ereignisse während der Fahrt als künstlerische Darbietung zu postulieren, zielte darauf, das Leben selbst als Theater zu begreifen; ebenso gedachte er, Eintrittskarten vor einer Baustelle oder auf einer belebten Straße zu verkaufen. Konrad Bayer plante für die Lesung im Riesenrad zu den “artachbayrühwiener festwochen” pro Umdrehung neue Karten zu verkaufen. Die Idee den Darstellerbegriff zu erweitern und die Rolle des Künstlers in Frage zu stellen, indem SportlerInnen, ArtistInnen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Auftritten auf der Bühne präsentiert wurden, wird heute von “Experten des Alltags”, der Gruppe Rimini Protokoll praktiziert.
Komponenten der katholischen Rituale als theatrale Vorgänge zu erkennen, liegt im katholischen Österreich nahe; österreichischer KünstlerInnen beschäftigen sich traditionell damit, ebenso mit dem einengenden Gefühls- und Bewusstseinsklima, das die katholische Kirche entscheidend mit verursachte. Als die Wiener Gruppe für die ersten “poetischen demonstrationen” 1953 an die katholische Kirche erinnernde Formen verwendete, diese “poetisierte”, d.h. verfremdete, wurde das als blasphemisch aufgefasst. Die “poetischen acte”, “macabren feste”, schwarzen Messen, imaginären Hinrichtungen, die durch Wien gezogene “flagellomechanische schreibmaschine”, waren in ihrer subversiven Sinnverschiebung eine künstlerische Antwort auf die omnipräsente Katholische Kirche in diesen Jahren. Die als “procession” angekündigte Veranstaltung une soirée aux amants funèbres vom 22. August 1953 wandte sich an eine größere Öffentlichkeit. Der gesamte Ablauf unter Verwendung von Kostüm, Requisite und Musik ist die Transformierung eines katholischen Rituals – ein Mittelding zwischen Fronleichnamsprozession und Begräbnis. Dieses Ereignis, heute als “Prozessionstheater” zu den Avantgardetheaterformen gezählt, hatte nicht nur in der Form, sondern auch in den gewählten Schauplätzen im zeitgenössischen Politikfeld seine Position. Die AvantgardekünstlerInnen beanspruchten dieselben öffentlichen Plätze und dieselben Routen, auf denen die Katholische Kirche ihre Prozessionen unternahm.
Die beiden 1958 und 1959 aufgeführten Literarischen Cabarets sind die bekanntesten Theaterereignisse. Durchgeführt von Achleitner, Rühm, Wiener, Bayer und einigen MitspielerInnen, brachten die Literarischen Cabarets alle Theaterformen in konzentrierter Form an einem Abend. Zwischen den Medien switchend, bestanden sie aus einer losen Serie von Nummern. Die Dramaturgie hatte Heterogenität zum Prinzip erhoben und setzte den Grundgedanken, nämlich Wirklichkeiten im Prozess zu konstruieren, szenisch um: “wir sind überzeugt, daß die einheitlichkeit und die geschlossenheit theaterfremde forderungen sind”, meinte Bayer. Es gab Szenen bzw. Kurzstücke, die traditionell aufgeführt wurden, so etwa kleine Dialektstücke wie die jause und es gab Stücke, die man heute als performances bezeichnen würde. Es gab Chansons und schockierende Aktionen, wie die berühmte Klavierzertrümmerung. Tanzimprovisationen, Ausstellen von Objekten als eine Art Gegenstandstheater, Dichterlesungen, Projektionen, Film und Vorlesung, klassische Klaviermusik und Musik auf diversen Instrumenten, Geräusch- und Toncollagen vom Band wechselten einander ab.
Die Trennung von sprachlichen Äußerungen, die im Text vorgegeben sind, und szenischer Aktion – eine Forderung der historischen Avantgarden – wurde durchgezogen. Alle Elemente wurden ohne hierarchische Reihung vorgeführt. Durch die formale Konfrontation ergaben sich neue Zusammenhänge und das Publikum wurde durch beißende Gesellschaftskritik, Polemik, Ironie und entlarvende Komik überrascht, schockiert und unterhalten. Das durchgängige Prinzip der Verweigerung von Einheitlichkeit zugunsten von Fragmentierung und Montage zeigte sich auch innerhalb der einzelnen Nummern. Auch sie liefen nicht linear ab und waren von einer “Poetik der Störung” gekennzeichnet. Der von Hans-Thies Lehmann eingeführte Begriff meint das Miteinbeziehen von unpassend, unprofessionell scheinenden und sogar störenden Sprechweisen und Bildlichkeiten. Störungen und Pannen, waren willkommen. Notfalls sorgten die Künstler selbst für Pannen, indem ein ahnungsloser Darsteller von der Bühne herab ins Publikum gestoßen wurde. Ereignisse von außen wurden miteinbezogen, etwa die Anwesenheit der Polizei oder die Unwilligkeit der Bühnenarbeiter.
Das Spiel mit der Zeit war ein weiteres dramaturgisches Prinzip, das das Publikum irritierte: Während der Nummer “phasen”, die sich aus einer Folge von 16 Kurzauftritten zusammensetzte, wurden simultan Lautgedichte rezitiert und Kiki Kogelnik, später berühmte Pop-Art-Künstlerin, ging immer wieder auf die Bühne, um eine große Uhr zu verstellen. Manche Nummern bestanden aus einem Halbsatz, einer minimalistischen Situation als Kurzauftritt, andere brachten echte Lebenszeit auf die Bühne und nervten das Publikum, weil sie als überlange Pausen verstanden wurden. So ließen sich die Autoren/Darsteller vom Kellner Kaffee servieren, aßen Würstel und lasen Zeitung. Das Außerkraftsetzen der klassischen Forderung nach der Einheit der Zeit und die Thematisierung von Zeit als faszinierendes Phänomen findet man heute im postdramatischen Theater, war jedoch damals außergewöhnlich.
Die Reflexion über die künstlerische Handlung, ein Merkmal der Wiener Gruppe wurde variantenreich in Szene gesetzt. So trug Rühm nicht nur Lautgedichte vor, er sprach über sie in diskursiv theoretischer Weise. Die Nummer selbstleute im 2. Literarischen Cabaret zeigte sich als Probe des Stückes selbstleute. ein kriminalstück, mit Autor/Regisseur Rühm für eine Aufführung anderswo. Hier wurde Theaterwirklichkeit auf der Bühne vorgeführt in einer potenzierten Spiel-im-Spiel-Situation. In der Nummer friedrich achleitner als biertrinker im 1. Literarischen Cabaret las Konrad Bayer hinter der Bühne den Text, der Biereinschenken und Trinken in kurzen Sätzen beschreibt, während Achleitner ohne jedes schauspielerische Zutun, im Sinne von non-acting, genau das ausführte. Beim Refrain des Chansons kunst kommt von können, der lautet: “ja wir künstler sind schöpfer (…) und schöpfen die kunst”, schöpften Bayer, Rühm, Achleitner und Wiener mit großen Schöpflöffeln Wasser aus einem Bottich und schütteten es auf den Boden. Ebenso provokant war, weil an der Überzeugung von der Überlegenheit der Hochkultur rüttelnd, das Gedicht “scheissen und brunzen sind kunsten”.
Auf dem Gebiet der Schauspielkunst betrat die Wiener Gruppe Neuland. Sie lehnte den traditionellen Schauspieler, der in einer festgelegten Rolle mit individuellem schauspielerischem Ausdruck agiert, ab. Die Haltung “als ob” stelle “grundsätzlich etwas falsches dar”, resümierte Bayer. Der Schauspieler müsse sich dem Konzept unterordnen und dürfe einen künstlerischen Ausdruck nicht selbstständig suchen. Der Dialog sei weder Dichtung noch Vorlage für die Schauspielkunst. Sprechen, Gebärden und Bewegen seien drei vollständig unabhängige Abläufe und dürften nicht als Einheit begriffen werden. Das erfordere ein neues Zeichenvokabular:
“unsere schauspieler werden versuchen, ihre eingelernten bewegungsleiter zu vergessen, wir werden ihnen an dieser Stelle neue mechanismen geben, die der jeweiligen situation auf der bühne und der person selbst angepaßt sind, und sicher die von uns erwarteten reaktionen hervorrufen. daher ist in viel stärkerem maße der text vom schauspieler her gesehen als vollkommen nebensächlich zu empfinden. wir müssen dahingelangen, den schauspieler von der vorstellung einer einheit seiner darstellungen freizumachen.”
Damit verlangte Bayer den Künstlertyp eines Performers, den es damals noch nicht gab. Obwohl mit verschiedenen Stufen des Spielens im Grenzbereich von Schauspielen und Performing experimentiert wurde, sollten die explizit theatralen Elemente und Strukturen nicht aufgegeben werden. Der Idealschauspieler war der Schauspieler, der innerhalb des Konzeptes die gerade herrschende Situation frei improvisierend weitertreibt, “in jedem falle etwas neues erzeugt”. Ein weiteres Element des Schauspielerbegriffs ist, dass die Autoren selbst szenisch auftraten, bzw. in die Interventionen verwickelt waren, wie eben bei der Performance.
Vieles musste damals Konzept bleiben. Wie bekannt, löste sich die Gruppe Anfang der 1960er Jahre auf. Vieles, was die Wiener Gruppe verlangt hat, konnte erst vom postdramatischen Theater und von der Performance Art für ein breiteres Publikum eingelöst werden. Heute, am Höhepunkt des postdramatischen Theaters und der Etablierung von Performancekunst kann man eine Vorwegnahme von ästhetischen Positionen, Dramaturgien und Präsentationsweisen erkennen, wie sie nun nicht nur das Avantgardetheater prägen, sondern auch Eingang gefunden haben ins Staats- und Stadttheater. “Was damals randständiges Experiment blieb, ist durch die neuen Möglichkeiten der Verbindung von Medientechnologie, Tanztheater, Raumkunst und Schauspiel zu einer zentralen Möglichkeit der Theaterästhetik geworden”, meint Hans-Thies Lehmann.
Die Wiener Gruppe stand auch am Beginn der sich in den 1960er Jahren ausbildenden alternativen Kunstszenen, wie das gerade gegründete Forum Stadtpark und die Zeitschrift manuskripte in Graz, in der sie veröffentlichten. Für die aus diesem Umfeld kommenden DramatikerInnen, wie Peter Handke, Gert Jonke und Elfriede Jelinek waren sie der entscheidende Anknüpfungspunkt. Sie und auch die folgende DramatikerInnengeneration insistierten so lange auf neuen Theaterformen, bis die starre Theaterpraxis ab den 1980er Jahren zu bröckeln begann. Konnte Gert Jonke in seinen letzten Lebensjahren internatonale Theatererfolge feiern, so stellte H.C. Artmann 1995 resignierend fest: “Die können meine Stücke net spielen”. Sind, wie dargelegt, die “Wirklichkeitsinterventionen” Teil des postdramatischen Theaters geworden und die Arbeitsweise Vorbild für den formen- und sprachkritischen Impetus vieler österreichischer DramatikerInnen, so harren die Theaterstücke der Wiener Gruppe im deutschsprachigen Stadt- und Staatstheater noch auf Entdeckung.
Evelyn Deutsch-Schreiner, Univ. Prof. Dr., Professorin für „Dramaturgie, Theater- und Literaturgeschichte“, Leiterin des Instituts Schauspiel an der Universität für Musik und Darstellende Kunst, Graz. 1981–1990 Dramaturgin am Landestheater Linz und am Volkstheater Wien. 1997/98 Gastprofessorin am Institut für Theaterwissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität, München. Forschungsschwerpunkte: Theatergeschichte im 20. Jahrhundert, NS-Zeit, Exil; Kulturpolitik, Dramaturgie. Neue Tendenzen im Drama. Publikationen (Auswahl): Theater im ‚Wiederaufbau’. Zur Kulturpolitk im österreichischen Parteien- und Verbändestaat, Wien 2008; Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas. (Hg.gem.m. Hans-Peter Bayerdörfer und Malgorzata Leyko) Tübingen 2007; „Es war als würde Utopia Realität werden”. Wien 1924: Schnittstelle von Entwicklungen in den Darstellenden Künsten. In: Karl Müller/ Hans Wagener Österreich 1918 und die Folgen – Geschichte, Literatur, Theater und Film. Wien 2009; “Theaterland Österreich”. Theater im verdeckt geführten Kulturkampf um eine österreichische Identität. In: Wiederaufbau in Österreich 1945–1955. München 2006.