“Teststrecke Kunst. Wiener Avantgarden nach 1945” – Panel-Block III
21. – 23. Oktober 2009, Österreichische Akademie der Wissenschaften
Die von der Wiener Avantgarde praktizierte Sprengung der traditionellen Kunstsparten und Formaten hatte – über die Befragung von Kunst und Wirklichkeit in der Sprache hinaus – zwei zentrale Fluchtpunkte: den radikalen Einsatz des eigenen und des fremden Körpers und das Experiment mit neuen Medien. Mit der Aufrufung eines ganzen Wörterbuchs von Dispositiven und Mythen von Präsenz / Situation / Ritual / Material / Aktion / Abreaktion / Sexualität / Exzess / Orgie / Destruktion / Ekel / Schmerz etc. überbot der Wiener Aktionismus die Dimensionen von Happenings, beginnender internationaler Körperkunst und des Theaters der Avantgarde und hinterließ der Reflexion und Theoriebildung ein ambivalentes Aufgabenfeld.
Parallel dazu eröffnete Valie Export mit ihren Performances einen feministischen Diskurs zur kritischen Reflexion von Blick, Sehgewohnheiten, weiblichem Körper und Geschlechterverhältnis. Ihre und Peter Weibels Expanded-Cinema Aktionen verließen alle tradierten Formate und Vorführformen und erweiterten die Dispositive von Kinosaal und Apparatur durch Einsatz des Körpers, performative Mittel und Einbeziehung des Publikums in öffentlichen Räumen.
1968 erreichte das „Schillern der Revolte“ Wien und kulminierte in der als politische Diskussionsveranstaltung angekündigten Aktion “Kunst & Revolution” im Hörsaal der Universität, die mit der Verurteilung von Akteuren und einer breiten Medienresonanz endete. Ab da erfolgte der Rückzug des Körpers ins Gesamtkunstwerk aktionsanalytischer Kommunen, einer Politik am eigenen Leib in Körper-Psychoanalyse und Theorie-Praxis-Basteleien der beginnenden alternativen Szene. 1976 versammelten sich bei der Besetzung der Arena, eines zum Abbruch bestimmten Schlachthofs, ein letztes Mal alle Lager von Kunst und Gegenkultur. 1976 war zugleich das Gründungsjahr von Punk in London, und Jean-François Lyotard und Charles Jencks eröffneten gemeinsam mit anderen bald darauf den Diskurs der Postmoderne. Ist dieses Datum als definitives Ende der Wiener Avantgarden zu sehen?
Von Aktionen, Körpern und Medieninstallationen bleiben Spuren zurück: Konzepttexte, Fotos und Filmdokumente, die über die Zeit eine eigene Materialität und Ästhetik gewonnen haben und heute Museen und Kataloge füllen. Zugleich hat die Wiener Avantgarde mit der Theorie und Praxis des Expanded Cinemas und dem Einsatz neuer Dispositive nachhaltige und bis heute wirksame Linien eröffnet: Installationen, Kontext-Kunst und Hypertexte, mit einem neuen Wörterbuch zu Hybridität, Komplexität, Nichtlinearität, Emergenz, Lernfähigkeit, Selbstorganisation, Chaos, Robustheit, Symbiosen, Diversität – und zahllosen „Small Worlds“.